: Landschaften in der Schlacht
Michael Ondaatje, gefeierter Autor des „Englischen Patienten“, hat einen Roman über den Bürgerkrieg in seinem Geburtsland Sri Lanka geschrieben: „Anils Geist“ zeigt das Panorama einer Kulturlandschaft, in der die Gerüche, die Blütenformen und Vogelstimmen von Entsetzen durchzogen sind
von ELKE SCHMITTER
Michael Ondaatje kommt aus Sri Lanka. Seit den Sechzigerjahren lebt er in Kanada. „Der englische Patient“ hat ihm, unter anderem durch Booker-Preis und Verfilmung, Verhältnisse eingetragen, in denen ein neues Buch zu schreiben vermutlich schwierig ist, nicht nur, weil man von nun an einem gepflegten Lebensstil verfallen könnte, sondern auch, weil die ästhetische Überbietung der eigenen Leistung einen besonderen, möglicherweise bedrückendenden Ehrgeiz erfordert. Zudem hat sich Ondaatje, den man sich als gefeierten Schriftsteller denken darf, nun eines Themas angenommen, das schlimme Träume und eine allgemeine Eintrübung der Stimmung garantiert: des Bürgerkriegs in Sri Lanka in den Achtziger- und Neunzigerjahren.
„Anils Geist“ ist die Geschichte einer Recherche. Die Gerichtsmedizinerin Anil Tissera kehrt in ihre Heimat zurück, um für eine Menschenrechtsorganisation Belege für Verbrechen auch seitens der Regierung zu sammeln. Im Land bekommt sie einen Archäologen gewissermaßen beigeordnet, dessen Charakter und Motive sie nicht einschätzen kann. Im Laufe ihrer Untersuchungen wird ihr Misstrauen gegen ihrem Partner Sarath latent; ein erotisch gefärbtes Interesse an dessen Bruder Gamini, einem aufopferungsvollen Arzt, bleibt ebenfalls unter der Oberfläche. Die gemeinsame Arbeit konzentriert sich sehr schnell auf die Identifizierung eines einzelnen Skeletts, und die dramatischen Ergebnisse der erfolgreichen Untersuchung sorgen für einen thrillerähnlichen Schluss.
So weit, so karg. Die Handlung der Erzählung ist so offensichtlich Vehikel für deren tatsächlichen Qualitäten, dass man ihre Schwächen in Bezug auf Plausibilität in psychologischer und empirischer Rücksicht getrost übergehen kann. Auch die Hauptfiguren des Buches sind eher Träger von Eigenschaften als vorstellbare Persönlichkeiten, und da sie weniger aufeinander reagieren, als stur ihren jeweils eigenen Motiven zu folgen, ergibt sich durch sie ebenso wenig Lebendigkeit. Was also will der Autor in diesem Roman?
Es ist schwer zu fassen. Ondaatje ist ein wunderbarer Landschaftsmaler, „Anils Geist“ unter anderem das Panorama einer Kulturlandschaft namens Ceylon. Doch es ist eine Landschaft in der Schlacht, und die Poesie der sinnlichen Details, der Gerüche und Farben, der Blütenformen und Vogelstimmen ist von Entsetzen durchzogen. Tausende Jahre alte Gräber, Kultstätten einer untergegangenen Welt, konkurrieren in Anils Interesse mit eilig verscharrten Leichen, zu Tode gefoltert, mit zerstörtem Gesicht, um jede Identifizierung zu verhindern. Die Moderne gibt kein gutes Bild ab in diesem Arrangement. Aber auch der Kontrast von archaischer und vorkolonialer Gesellschaft zu der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts scheint nicht eigentlich Ondaatjes Thema zu sein. Vielmehr ist es wohl die Gewalt selbst und das Mitleid als ihr Gegenüber.
Es gibt keine Täter in diesem Roman. Dieselben Patienten, die Gamini in langen Nächten an entlegenen Orten zusammengeflickt hat, entwenden, kaum dass sie laufen können, seinen Wecker: ein sicherer Hinweis darauf, dass sie nun (wieder) Bomben basteln werden. Wir erfahren nichts über ihre Gründe, wie überhaupt die Gewalt in diesem Buch häufig eine unpersönliche ist, schicksalhaft, zufällig. Sie fügt der körperlichen Ohnmacht der Verletzten noch eine psychologische hinzu: zur falschen Zeit an der Bushaltestelle gestanden, am falschen Ort auf die Liebste gewartet, vor dem Haus auf eine Mine getreten – ganz einfach Pech gehabt, nicht einmal „schuldig“ gewesen. Es gibt keine politische Sprache in diesem Buch. Ondaatje gibt keinerlei Anhaltspunkte, warum der Bürgerkrieg wütet. Seine Leser erfahren eine Menge über Bestattungsriten versunkener Königreiche, über die Techniken der Pathologie, die Möglichkeiten der Archäologie, auch über zerrissene Gedärme, amputierte Gliedmaßen und die Verheerungen der Folter – aber nichts darüber, warum Ondaatje diese Wissensfelder zusammenfügt. Sie lernen nur Opfer kennen, eine Welt, in der in einem fort Opfer verlangt und gemacht werden und in der rätselhafterweise einige Individuen mit einer ebenso grenzenlosen wie unpersönlichen Kraft zum Mitleiden begabt sind. Es ist eine trotz aller Details merkwürdig austauschbare Welt: denn „Anils Geist“ könnte nach Abzug der Folklore ebenso gut im Kongo spielen.
Vielleicht war es eine besondere Art von Respekt vor seinem Thema, die den Erzähler Ondaatje hat zurückweichen lassen – das würde eine gewisse Erstarrung erklären, das Ausweichen vor einer Geschichte, die durch Ingredienzen wie Liebe, Beziehungen, moralische Erwägungen ein menschliches und also kleineres Maß gewonnen hätte. Er hat ein Tableaux geschaffen, ein erstarrtes Bild des Schreckens, Picassos „Guernica“ ähnlicher als seinen bisherigen Büchern. In einem gelungenen szenischen Kleinod scheint auf, welche Verstrickung der Autor wohl zeigen wollte; es handelt sich um eine tragische Anekdote, die Sarath erzählt:
„Es war gegen Abend, die Märkte machten zu. Zwei Männer, Aufständische, wie ich vermute, hatten einen Mann gefangen (. . .) Er trug einen Sarong und ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Das Hemd hing über den Sarong. Er hatte keine Schuhe an. Und man hatte ihm die Augen verbunden. Sie richteten ihn auf und nötigten ihn, sich auf die Stange eines Fahrrads zu zwängen. Einer der Schergen setzte sich auf den Sattel, der andere stand mit dem Gewehr in der Hand daneben. Als ich sie sah, fuhren sie gerade los. Der Mann konnte weder sehen, was um ihn herum geschah, noch, wohin man ihn brachte.
Als sie losfuhren, musste der Mann mit der Augenbinde sich festhalten. Die eine Hand hatte er an der Lenkstange, aber die andere musste er dem Schergen um den Hals legen (. . .) Es wäre einfacher gewesen, wenn sie zu Fuß gegangen wären. Aber so hatte das Ganze etwas eigenartig Feierliches. Vielleicht war ihnen das Fahrrad wichtig, weil es in ihren Augen ein Statussymbol darstellte. Warum sollte man ein Opfer mit verbundenen Augen auf einem Fahrrad transportieren? Dadurch wirkte alles Leben gefährdet. Und es machte sie allesamt gleicher. Wie betrunkene Studenten. Der Mann mit der Binde vor den Augen musste sein Gleichgewicht an das seines möglichen Mörders anpassen.“
Dieser Einfall, die Symbiose von Tätern und Opfern in einem sehr eindringlichen Bild zu zeigen, markiert einen der Höhepunkte dieses Buches, das als Roman nicht in Erinnerung bleibt. Aber schließlich geht eine gewisse Ratlosigkeit zweifellos auf das Konto des Verlages. Der hat sich dafür entschieden, bestimmte Begriffe im Original (tamilisch, singhalesisch, wer kann das wissen) zu belassen, aber auf ein Glossar verzichtet. Er hat vor allem eine Übersetzung gedruckt, die passagenweise jeder Beschreibung spottet. Grammatikfehler, offensichtlicher Unsinn wie ein Holzbalken mit „einer idiosynkratischen Neigung“, eine „töchterlos wirkende“ Frau usw. werden aufs Trostloseste überboten von Sätzen wie „Er war der Zweisprachigste von allen“, oder, ein Gipfelpunkt von Eleganz und Scharfsinn: „Mit wenig Zubehör, einem leichten Hemd und Hose, keinem Sonnenschirm und keinen Lebensmitteln, machte er sich auf den Weg in den Wald. Manchmal sah er, wenn er kam, dass jemand aufgeräumt hatte; manchmal hatte der Ort sich wie ein Auge im Wald verschlossen.“ Da traut man sich dann auch nicht mehr, einen Satz wie von Susanna Tamaro oder wie immer sie heißt dem Autor als Entgleisung anzurechnen, obwohl vieles dafür spricht, dass er seinem eigenen Werk hin und wieder entkommen wollte: „Doch es war sein eigenes Herz, das nicht fähig war, in die Welt hinauszugehen.“ – Möge der Hanser Verlag fähig sein, für eine weitere Auflage seinen Kopf zu bemühen.
Michael Ondaatje: „Anils Geist“.Aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München 2000, 325 Seiten, 39,80 DM
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