: Gut organisierter Wahnsinn
Organisation und Polizei haben dem ältesten deutschen Radrennen, „Rund um Berlin“, den einzigartigen Ruf eingebracht, ein Chaosklassiker zu sein. Dieser Ruf wurde eindrucksvoll bestätigt
von OKE GÖTTLICH
Das Ballett ums Kopfsteinpflaster, wie der zum 94. Mal ausgetragene Klassiker liebevoll genannt wird, entschied sich nicht in den reifentiefen Spalten zwischen den Pflastersteinen irgendwo zwischen Miersdorf und Langerwisch.
Auch der sich immer wieder einmischende Regen erschrak die Fahrer nicht, die auf den schmierseifenglatten Straßen rund um Berlin fahrerisches Können bewiesen. Ein Massensturz bei Saarmund und zwei Bahnschranken waren auch noch nicht genug, die tapferen Radler um Telekom-Profi Jan Schaffrath und dem vorjährigen Vizeweltmeister im Einzelzeitfahren, Michael Andersson, aufzuhalten. Immer wieder überwanden sie den Schweinehund aufs Neue um nicht aus dem lange beisammengebliebenen Feld zurückzufallen und allein gelassen die restlichen Kilometer zu fressen. Bis Kilometer 150, 14.37 Uhr. Es ging auf den Innenstadtkurs rund um den Potsdamer Platz. „Ein Hauch von Paris, wenn dort zum Ende der Tour de France auf den Champs-Elysées die letzten Runden gefahren werden“, versprach der Präsident des SC Berlin und Verantwortliche des Rennens Karl-Heinz Jahn vier Tage vor dem Start.
Das Funkgerät wusste es besser. Plötzlich wurde es mal richtig hektisch in der Fahrzeugkolonne der Betreuer und Schiedsrichter auf den Straßen von Berlin. „Querverkehr von rechts. Die Straßen sind völlig verstopft. Nichts ist abgesichert. Was ist denn hier los. Ich werde wahnsinnig“, schrie das Gerät unaufhörlich schrill und in völliger Hilflosigkeit durch die offiziellen Begleitfahrzeuge. Auf einer von der Polizei verwaisten Kreuzung in Kreuzberg raste das Fahrerfeld in die falsche Richtung und befand sich im fließenden, entgegenkommenden Verkehr. Es folgte der alles vernichtende Funkruf. Andreas Petermann, Internationaler Kommissar des Radsportverbandes UCI, erklärte das Rennen für die ungefähr 80 Fahrer im Hauptfeld für beendet: „Unter diesen Bedingungen ist es unverantwortlich, das Rennen weiter fortzuführen.“
Die beiden langjährigen Radsportfüchse Holger Waldow und Peter Minow, dessen Sohn Benjamin ebenfalls betroffen war, waren fassungslos. „Was soll so eine komplizierte Streckenführung“, fragte sich der ehemalige Jugendtrainer des Team Telekom, Peter Minow, immer wieder. Quer schlängelte Holger Waldow den Wagen durch die sich stauenden Wagen, überfuhr weiterhin rote Ampeln und war eines Traumes beraubt: endlich mal wieder einen topbesetzten Radklassiker erleben und diesen auf dem Motorrad zu begleiten. Die überwiegend jungen Fahrer, die um ein Profivertrag kämpfen, wurden so wenigstens um einen warmen Applaus betrogen. „Scheiß Organisation“, beschwerte sich Maik Vomfell aus dem Team EC/Bayer. Lediglich neun Fahrer, die sich in Berlin-Grunewald vom Feld absetzten und ungefähr eine Minute Vorsprung herausfuhren, wurden weiter durch die Stadt gelotst. Auf einer Stadtstrecke, die nicht voll abgesperrt und lebensgefährlich für die Sportler war.
Dabei hatten sich die Organisatoren Rainer Hägeholz und Michael Drabinski so viel vorgenommen. Die diesjährige Rundfahrt sollte die UCI-Komissare davon überzeugen, den Klassiker aufzuwerten, damit die ersten hundert Fahrer der Weltrangliste teilnehmen dürfen. Dazu wäre eine Hochstufung von 1.5 auf 1.4 nötig gewesen. Das Rahmenprogramm strotzte vor organisatorischer Mühe. Eberhard Diepgen, regierender Bürgermeister, gab den Startschuss auf dem Marlene-Dietrich-Platz, der Sekt floss schon morgens um zehn in die Bäuche der geladenen Gäste, als ob sie schon eine große wäre, die Tour „Rund um Berlin“, die schon früher durch chaotische Umstände auffiel. Andreas Petermann, UCI-Beobachter und selbst ein verdienter Radfahrer Ostdeutschlands, hätte es gern für die Berliner eingefädelt. „Ich drücke Berlin die Daumen und habe bisher einen guten Eindruck“, sagte er vor Beginn der Wettfahrt. Doch schon beim ersten Prämienspurt zeigte sich, dass der Wahn Berlins, im Jahr 2001 unbedingt ein großes Rennen durchführen zu wollen, schon an grundsätzlichen Planungen scheiterte. Kurz vor dem Beginn des Spurts um die Prämie wurde die Zieleinfahrt verlegt. „Mach, wie du denkst“, ertönte aus dem Funkgerät die Anweisung an die Jury. Nach einem schweren Sturz in Kiekebusch blieb das Feld ungefähr 50 Kilometer ohne ärztliche Betreuung. Spätestens aber nach Besichtung des Zieleinlaufs wurde klar, was Alexander Bauer, Fahrer aus dem Team EC/Bayer, „als hübsch für die Sponsoren, aber organisatorisch als beschissen“ bezeichnete. Zehn Meter nach dem Zieleinlauf krümmte sich die Straße. Im Falle eines Massenspurtes sah man die Fahrer schon reihenweise in die Abgrenzung heizen. „Das Rennen gehört abgewertet“, erzürnten sich gleich mehrere Fahrer nicht nur über diese Kurzsichtigkeit der Organisatoren.
Verständliche Reaktionen nach 150 Kilometern größter Anstrengung. Die ungefähr 80 Fahrer aus dem Hauptfeld durften sich zumindest den zehnten Platz teilen und fühlen sich trotzdem mindestens so gelackmeiert wie die Leser, die sich jetzt hier das Endergebnis gewünscht hätten.
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