: „Der genetische Code ist kein Code“
Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay unternimmt die Dekonstruktion der Neuen Biologie. Ihre Arbeit wurde durch Mittel des Humangenomprojekts unterstützt. Die DNA, so lautet ihre These, ist keine Sprache. Es stellt sich die Frage: Was kann die Metapher tatsächlich leisten?
Interview: HENNING SCHMIDGEN
taz: In der Einleitung zu Ihrem Buch unterstreichen Sie, dass es Ihnen nicht um eine Geschichte der Molekularbiologie geht. Sie beschreiben nicht die Entdeckung der DNA, auch nicht die Geschichte des Humangenomprojekts, obwohl beides wichtige Aspekte Ihrer Studie sind. Stattdessen stellen Sie die Geschichte des genetischen Codes dar. Warum haben Sie diesen Fokus gewählt?
Lily E. Kay: Ich habe mich für die Geschichte des genetischen Codes interessiert, weil es dieser Code war, der es Wissenschaftlern ermöglicht hat, die Manipulation von Genen in Pflanzen, Tieren und Menschen in Angriff zu nehmen. Schon bevor der genetische Code 1967 vollständig begriffen wurde, gab es in den Medien eine deutliche Ahnung davon, dass dies eine der wichtigsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts sein würde. Dies alles passierte, noch bevor die Genmanipulation als Verfahren überhaupt verfügbar war (das war erst in den frühen 1970er-Jahren der Fall, mit dem Aufkommen von rekombinanten DNA-Technologien). Die öffentlichen Debatten um die Schaffung von „Engeln und Monstern“ begannen also, lange bevor der genetische Code als solcher verstanden wurde. In diesem Sinne war der Code eine Ikone, ein Wappen für die Machtpotenziale der Molekularbiologie, die zu dieser Zeit eine sehr junge Disziplin war.
Sie versuchen die Geschichte des genetischen Codes nicht nur als ein Kapitel aus der Geschichte der modernen Lebenswissenschaften zu erzählen, sondern auch als Teil der Geschichte des Kalten Kriegs, des Atomzeitalters und der aufkommenden Computertechnologie. Als entscheidende Instanz dieser Geschichte stellen Sie die Diskurse von Informatik und Kybernetik dar.
Das ist wahrscheinlich eines der Merkmale, die mein Buch von anderen Darstellungen zur Geschichte der Molekularbiologie deutlich abhebt. Als Historikerin argumentiere ich, dass der genetische Code erst durch die historischen Umstände, also durch den soziokulturellen Kontext, in den er eingebettet war, Gestalt bekam und zum Objekt wissenschaftlicher Aufmerksamkeit wurde. Meine These ist, dass sich in den späten 1940er-Jahren im System der Repräsentationen ein epistemischer Bruch ereignete. Es war die Zeit, in der sich die neuen Techno-Wissenschaften formierten: Kybernetik, Informationstheorie, Operations Research, der elektronische Computer, die digitalen Technologien und Kontrollsysteme. Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs fand eine weitreichende Neukonfigurierung des Wissens statt. Meiner Beobachtung nach gilt dies nicht nur für die Biologie, sondern für alle Disziplinen.
Historische Untersuchungen, die sich mit der Entstehung der „Neuen Biologie“ beschäftigen, tendieren immer noch dazu, Erfolgsgeschichten zu sein, das heißt Erzählungen von erfolgreichen Forschungsprogrammen und Institutionen, oder sogar Berichte über das Leben bedeutender Wissenschaftler. Sie versuchen stattdessen, die Geschichte eines wissenschaftlichen Objekts zu schreiben. Können Sie den Status dieses Objekts näher bestimmen?
Ich habe mich entschlossen, keine Geschichte der Disziplin oder bedeutender Forscher zu schreiben, obwohl sich auch diese Stränge im Buch finden, denn natürlich sind auch sie sehr wichtig. Meine These ist, dass der genetische Code geschaffen wurde, dass er nicht schon als Gegenstand existierte, sondern zu einem wissenschaftlichen Objekt erst im Verlaufe eines Prozesses wurde, der schließlich zur Konzeptualisierung des Genproblems als Informationsübertragung zwischen DNA und Proteinen führte. Ich schreibe also die Geschichte eines wissenschaftlichen Objekts, das in einer historisch und kulturell sehr spezifischen Weise konstituiert wurde.
Das wahrscheinlich wichtigste Ergebnis dieses Vorgehens ist, dass der genetische Code kein Code ist, jedenfalls nicht, wenn man dabei irgendeinen technischen Standard aus der Codierungstheorie, der Kryptologie oder auch nur die Maßstäbe der Sprachwissenschaft zugrunde legt. Meine These ist, dass es keinen genetischen Code „da draußen“ gab, den die Wissenschaftler nur zu entdecken brauchten. Jeder Kryptologe und jeder Linguist wird Ihnen bestätigen, dass die DNA keine Sprache ist und dass der genetische Code kein Code ist. Es ist eine Korrelationstabelle zwischen 64 Codonen und 20 Aminosäuren, und es ist eine sehr wichtige Tabelle. Sie gab der Molekularbiologie die Macht an die Hand, Elemente so zu korrelieren, dass sie manipulierbar wurden. Aber die Tatsache, dass die DNA keine Sprache ist, legt dem, was mit dieser Metapher tatsächlich geleistet werden kann, auch einige Beschränkungen auf. Das ist mit der Grund dafür, dass ich die Geschichte des genetischen Codes schreiben wollte, denn dieser gewinnt erst durch seine Konstruktion an Bedeutung.
Heißt das, der genetische Code ist der bloße Effekt des Informationsdiskurses in der Biologie?
Ich bin weder Positivist noch Konstruktivist. Daher würde ich zwar sagen, dass der genetische Code nicht einfach als ein Objekt vorhanden war, das nur entdeckt werden müsste. Aber ich würde auch nicht behaupten, dass der genetische Code gar nicht existierte, dass er also eine bloße Erfindung der Wissenschaftler ist.
Ich verfolge einen Ansatz, den man poststrukturalistisch oder dekonstruktivistisch nennen könnte. Ich konzentriere mich auf die Repräsentationen, die gegeben waren. Es hat da einen Diskurs gegeben, der es ermöglichte, Organismen und soziale Phänomene, künstliche und natürliche Erscheinungen als Informationssysteme zu denken, also als Übermittlung von Signalen und Botschaften, wobei Input und Output im Sinne von Texten und Symbolen aufgefasst wurden. Als die Wissenschafter begannen, sich ihrer zu bedienen, formten diese Repräsentationen ihre Art, biologische Probleme zu konzeptualisieren, und zwar in der Weise, dass sie selbst gewissermaßen zu einem Teil dieses Repräsentationssystems wurden. Es lag also gar nicht in der Macht der Wissenschaftler, einfach daranzugehen, den genetischen Code zu konstruieren, und sie haben nicht notwendigerweise gewusst, dass sie Teil eines Prozesses der Diskursformation waren.
Aber wenn Sie die Frage stellen: „Wer schrieb das Buch des Lebens?“, dann werfen Sie doch die Frage nach einer Autorenschaft auf. Wie lautet Ihre Antwort darauf?
Nun, das ist genau der Punkt. Wenn man die Frage nämlich ernst nimmt, dann sieht man, dass es keine Antwort auf sie gibt. In Wirklichkeit ist der genetische Code etwas, was wir eine Aporie nennen, was – nach der griechischen Etymologie – „Ausweglosigkeit“ heißt, Paradoxie, Rätsel. Wenn DNA-Sequenzen Botschaften und lesbare Texte sind, muss man immer fragen: Wer hat sie geschrieben, wer hat sie hervorgebracht, und wer ist ihr Empfänger? Und dann beginnt man zu sehen, dass, egal wie man es betrachtet, ob von einem positivistischen, einem konstruktivistischen oder einem dekonstruktivistischen Gesichtspunkt, der Code immer eine Metapher ist. Deswegen ist es so wichtig, zu zeigen, dass der ganze Informationsdiskurs – der innerhalb des Laboratoriums und auch außerhalb, als Vorstellungsraum, nützlich und produktiv gewesen ist – auch gravierenden Beschränkungen unterliegt, die in der Art der Fragestellung zum Ausdruck kommen.
Im Vorwort zu Ihrem Buch erklären Sie, dass Ihre Forschungsarbeit zu einem beträchtlichen Teil durch Mittel aus dem Humangenomprojekt unterstützt wurde. Was waren die Gründe für die Unterstützung ausgerechnet von dieser Seite, und welche Bedeutung hatte sie für Ihre Arbeit?
Als Anfang der 1980er-Jahre das Humangenomprojekt in den USA gestartet wurde, setzte James Watson, der damalige Direktor, 5 Prozent des Budgets für ethische, rechtliche und soziale Studien ein. Das ist eine interessantes Beispiel für die Entwicklungen, die Ulrich Beck in seiner „Risikogesellschaft“ thematisiert hat.
In postindustriellen Gesellschaften oder in der von Beck so genannten „reflexiven Moderne“ ist das Hauptanliegen nicht mehr, die Produktion und die Profite zu maximieren, sondern zugleich sollen auch Risikoanalysen durchgeführt werden. Das heißt, die Risikofragen sind in die Beurteilung der Technologien eingeschlossen, die gerade entwickelt werden. In den 1970er-Jahren, als die Gentechnologie aufkam, gab es viele Debatten unter Wissenschaftlern und in der Öffentlichkeit. Durch den Aktivismus von engagierten Bürgern wurde auf die Gefahren der Gentechnologie hingewiesen. Schließlich entschloss man sich dazu, 5 Prozent des Budgets einzusetzen, um Raum für die kritische Folgenabschätzung des Humangenomprojekts zu schaffen.
Wie Sie richtig sagen, wurde ich sehr großzügig von den National Institutes of Health gefördert. Mein Anliegen ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass der genetische Code nicht das Wundermittel und nicht die Kontrollinstanz ist, als die er seit Mitte der 1960er-Jahre gesehen wurde. Wir wissen heute, dass die meisten Krankheiten tatsächlich multigenetisch oder multifaktoriell bedingt sind. Der Grad an Kontrolle, den Biologen erreichen können, wenn Sie die Beziehungen zwischen Nukleinsäuren und Proteinen kennen, ist also deutlich begrenzt. Die Kenntnisse als solche sind durchaus brauchbar, aber der genetische Code kann nicht einlösen, was er versprochen hat.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den öffentlichen Diskursen über Genforschung und dieser weitgehend wissenschaftsinternen Kritik?
Nun ja, da gibt es auf der einen Seite diejenigen, die sagen: „Das ist fantastisch, das ist die Zukunft der Welt“, die Enthusiasten also und die technologisch Begeisterten. Auf der anderen Seite haben wir die Gruppe derjenigen, die sich Sorgen über die Züchtung von Monstern machen. Natürlich ist das eine sehr stark vereinfachte und sehr naive Auffassung des Problems.
Das wirkliche Problem ist, dass die Versprechen, die die Vertreter des Humangenomprojekts gemacht haben, nicht gehalten werden können. Ich denke, dass auch viele Biologen das so sehen. Das heißt nicht, dass es keine positiven Entwicklungen geben wird. Es werden ein paar brauchbare Diagnoseverfahren und einige wirkungsvolle Medikamente entwickelt werden. Aber das Bild der großen Veränderung unserer Welt ist irreführend. Das Problem ist, dass die öffentlichen Debatten, statt sich auf die Kritik der Wissenschaft und der finanziellen Ausbeutung ihrer relativ leeren wissenschaftlichen Versprechungen zu konzentrieren, ganz auf die utopischen beziehungsweise dystopischen Aspekte der Entwicklung abstellen.
Sie sehen da also einen regelrechten Abgrund zwischen der wissenschaftlichen Einschätzung der Genforschung und der öffentlichen Begleitung derselben. Wenn es so wäre: Was kann getan werden, um die Kluft zu überbrücken?
Das ist wirklich ein großes Problem. Wir haben das sehr deutlich bei unserer „Postgenomics?“-Konferenz gesehen, die ich im Herbst 1998 gemeinsam mit Hans-Jörg Rheinberger am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin organisiert habe. Es gab drei Tage Diskussionen über Humangenomprojekte, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und viele Naturwissenschaftler waren dazu eingeladen.
Einesteils waren da also Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftssoziologen, aber mindestens die Hälfte der Teilnehmer stellten praktizierende Biologen. Das Ergebnis dieser Tagung war, dass es zwischen Wissenschaftsforschern und Biologen keinen größeren Dissens über die Probleme von Humangenomprojekten gibt. Sicher, es war merkwürdig, am dritten Tag an einen Punkt zu gelangen, an dem die Wissenschaftler unseren kritischen Analysen beipflichteten. Wir haben dann gesagt: „Wenn Sie dieser Kritik zustimmen, warum schreiben Sie dann nicht einen entsprechenden Zeitungsartikel?“
Da die Wissenschaftler diejenigen sind, die den Medienrummel zum Laufen gebracht haben, sind sie auch dafür verantwortlich. Doch Wissenschaftler neigen dazu, zu sagen: „Wir machen nur unsere Forschung im Labor. Es sind die Zeitungen, die Journalisten, die Medien, die verantwortlich sind für die unrealistischen, utopischen Bilder. Wir im Labor machen nur unsere Arbeit.“ Und ebendas stimmt nicht mehr.
Heutzutage sind Wissenschaftler Politiker, sie sind Aktienhändler, sie haben ihre eigenen Biotech-Unternehmen und sitzen nicht länger nur in ihren Laboratorien herum. In den USA sind mindestens 80 Prozent der Molekularbiologen an eigenen kommerziellen Biotech-Unternehmen beteiligt. Das ist also nicht länger ein rein akademisches Problem, und daher ist es auch nicht nur ein Problem der Medien. Die Wissenschaftler sind massiv an der sozialen und politischen Verbreitung ihrer Arbeit beteiligt. Es kam daher die Frage auf, ob die Wissenschaftler sich jetzt nicht an die Öffentlichkeit wenden sollten, schließlich sind sie zumindest anfänglich verantwortlich für die Schaffung dieses Medienimages der Gentechnologie. Allerdings kennt die Öffentlichkeit nicht wirklich die technischen Details. Deshalb ist es wohl ein wenig unrealistisch, zu meinen, dass sie die Wissenschaftskritik adäquat führen kann. Folglich sollten die sozial verantwortlichen Wissenschaftler aufstehen und sagen: „Wissen Sie was? Es ist überhaupt nicht so, wie es die Zeitungen darstellen. Die Sache ist viel komplizier- ter. . .“ Das haben sie auf der „Postgenomics?“-Konferenz gesagt, und sie sollten es nun auch vor einer breiteren Öffentlichkeit tun.
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