NICHTS NEUES ÜBER DIE „ESTONIA“ – AUSSER EINEM MEDIENSKANDAL
: Spekulationen mit dem Leid

Russisches Atomwaffenmaterial für Libyen. Transportiert auf einer Ostseefähre nach Stockholm. Ein schussbereites US-Atom-U-Boot. Ein in den Rumpf gesprengtes Loch. Agenten, die in einer Sturmnacht die Bugklappe einer Fähre öffnen, um Beweismittel zu entsorgen. Der Kapitän, der den Untergang überlebte und nun gefangen gehalten wird auf einer einsamen Insel, weil er zu viel weiß. Oder etwa doch nur ein Konstruktionsfehler? – Glückliche Concorde! Immer dann, wenn es keine schnellen, überzeugend präsentierten und technisch einigermaßen nachvollziehbaren Ursachenzusammenhänge für spektakuläre Abstürze, Zusammenstöße und Untergänge gibt, öffnet sich ein fruchtbares Feld für Spekulationen. So auch um den Untergang der „Estonia“ vor nunmehr bald sechs Jahren. Fragt sich nur: Wem nützt’s?

Ganz einfach: Menschen, die an diesen Spekulationen verdienen, weil sich auf dem Medienmarkt damit Geld machen lässt. Die mit deutschen Fernsehgeldern finanzierte „Estonia“-Tauchaktion hat keine der von ihr vorab in die Welt gesetzten Spekulationen über die „Wahrheit“ der Katastrophe belegen können. Doch die Fernsehproduzentin, die mit einem „Okay, wir haben uns getäuscht“ die Spesen unter der Rubrik Verlust abbucht, muss wohl erst geboren werden. Also heißt es: Skandal! Wir haben sechs, acht Leichen auf dem Meeresboden entdeckt! Leichen, die nicht etwa friedlich in ihren Kabinen schlafen, sondern ungeschützt dort unten liegen. Das Resultat folgt auf dem Fuße: Wieder gibt es dreißig, vierzig nicht über ihren Verlust hinweggekommene Menschen, die nun hoffen, die Körper ihrer Angehörigen doch noch bergen und bestatten zu können. Wieder gibt es Medien, die mit Schlagzeilen und wackeligen Videobildern alte Wunden aufreißen und bei PolitikerInnen Handlungsbereitschaft einfordern.

Sechs oder acht? 757 Opfer des Untergangs sind nie geborgen worden. Es liegen wohl Hunderte von Ertrunkenen weit verstreut auf dem Meeresboden. Wer wüsste das nicht? Sie sind in diesem Seegrab nicht weniger unchristlich bestattet als in der Erde. Wie heuchlerisch und zynisch muss man sein, selbst solchen „Skandal!“ noch in klingende Münze umwandeln zu wollen? REINHARD WOLFF