: Einfallstore öffnen
Das Theaterstück als Atomkern: Talia-Intendant Khuon startet als Teamchef. Ein Porträt ■ Von Petra Schellen
Er sieht nicht aus wie ein „Macher“. Er betrachtet sich nicht als Hauptakteur und gibt sich eher bescheiden: Verbindlich und zurückhaltend wirkt der neue Thalia-Intendant Ulrich Khuon, der sich keineswegs als Mittelpunkt des Universums betrachtet. Mit einem Team aus 40 Schauspielern – die Hälfte davon hat er neu verpflichtet – will der frühere Intendant des Hannoveraner Staatstheaters den Spagat zwischen etablierten Autoren – Shakespeare, Kleist, Dante – und jungen Dramatikern wie Dea Loher und Moritz Rinke wagen, und vor „defensiven Programmen“ wie dem Pinoccio hat er auch keine Angst: „Es ist wichtig, das Einfallstor ins Theater möglichst früh zu öffnen.“ Ein Kinder- und Jugendtheater hat der aus Stuttgart stammende Khuon schon in Konstanz, wo 1988 seine erste Intendanz stattfand, gegründet, aber „hier in Hamburg, wo es schon mehrere Kindertheater gibt, eine neue Sparte aufzumachen, hätte keinen Sinn“.
Seit seinem 18. Lebensjahr befasst sich Khuon mit Theater, hat aber trotzdem erstmal das „Sicherheitsstudium“ Jura abgeschlossen: „Bei uns zu Hause war es Usus, eine begonnene Sache auch zu Ende zu führen, und das habe ich stark verinnerlicht“, erzählt er, und das folgende Germanistik-Studium hätte ja dann schon mehr mit Theater zu tun gehabt, sagt er fast entschuldigend. Und der Theologie-Abschluss, warum musste der auch noch sein? „Das war ein Neigungsstudium, weil mich die Theodizee interessiert.“
Auf dem Theater interessieren ihn eher Verlierertypen. „Der Hamlet, den wir im Oktober spielen, ist ein Beispiel für die Unfähigkeit zu handeln – ein sehr aktuelles Thema: Wie oft wünschten wir Machern, mal innezuhalten; wie viele Nachdenkliche andererseits sind zu zögerlich, um Notwendiges durchzusetzen?“ Und er, gedenkt er ein strenges Regiment in seinem Haus zu führen? „Ich betrachte das Ensemble als Fußballmannschaft: Die Leute sollen einander kennen lernen und möglichst harmonieren.“
Die von ihm mitgebrachte Hälfte des Teams besteht aus Hannoveraner MitstreiterInnen und KünstlerInnen, mit denen er früher schon zusammengearbeit hat; darunter ist auch der aus Magdeburg stammende Andreas Kriegenburg, der Maxim Gorkis Nachtasyl inszenieren wird: „Ich wollte, dass das ein Ost-Regisseur macht, weil er mehr emotionale Kraft hat als viele West-Kollegen“, sinniert er.
„Wenn es ums Scheitern geht, wie in Nachtasyl, ist Kriegenburg authentischer, denn das Scheitern der Utopie DDR hat er selbst erlebt. Er hat besseren Zugang zu einem Stück, in dem eine sich zersplitternde Gesellschaft vorgeführt wird. Denn auch in unserer Gesellschaft wird die Mitte immer breiter, und die haben die beiden großen Parteien besetzt. Es gibt aber ein Gefälle zu den Rändern hin, die nur temporär wahrgenommen werden.
Und ganz plötzlich heißt es dann, das Grauen kommt. Und hier ist es interessant, im Theater mal zu gucken, was da passiert bei den Verlieren. Denn die so genannte Mitte der Gesellschaft besteht aus nur äußerlich stabilen Figuren, die vor allem Durchsetzungsfähigkeit gelernt haben – aber nicht, sich selbst treu zu bleiben.“
Und Treue zum Werk, bedeutet sie Khuon irgend etwas? „Das ist für mich ein Phantombegriff: Heißt es, eine vergangene Inszenierung nachzuahmen? Bedeutet es, den vollständigen Text aufzuführen? Wichtig ist doch letztlich nur, dass der Stoff auf die aktuelle Zeit beziehbar ist. Ein Theaterstück ist für mich wie ein Atomkern, der sich mit ständig neuen Elementen verbindet: Schauspieler, Regisseur, Zeit.“ Und vielleicht gebe es in der Geschichte tatsächlich einen Themenkanon von Wiederkehrendem, das – je nach Epoche – wieder aufleben könne.
Ob manche Stoffe allerdings endgültig passé sind – „schwer zu sagen“. Aber „alte Stücke zeigen, dass unsere Probleme nicht neu sind. Diese Wiederholung beruhigt und macht auch ein bisschen kleiner. Da gibt es einen Reichtum an durch Stücke transportierten Erfahrungen, aus dem wir schöpfen können – allerdings nicht mit jener Arroganz, die da sagt, das Stück muss jetzt erstmal ordentlich aktualisiert werden.“
Arroganz und Demut – beides ist ihm fremd, dem neuen Thalia-Intendaten, der auch die Trennung zwischen Hoch- und Subkultur nur begrenzt mitvollziehen möchte: „Es ist natürlich sinnvoll, das von den Arbeitsfeldern her zu trennen. Die so genannte Hochkultur kann sehr statisch sein, aber auch die Subkultur ist von Schläfrigkeiten nicht ganz frei. Was mir auffällt, ist die Tendenz, Leute zu benutzen. Wer hier auf Kampnagel erfolgreich ist, bekommt danach oft sehr schnell etliche Theaterangebote. Das zeugt von einer großen Gier nach frischem Blut. Ich bin nicht gegen diesen Austausch, aber mir missfällt das Aussaugen.“
Für das Wachsenlassen von Kreativtät plädiert er, wie es auch in der Thalia-Studiobühne Gaußstraße ab Ende November passieren wird: Europäische junge Theaterliteratur soll hier präsentiert werden: Der Schrei des Elefanten des Russen Farid Nagim und Das Kind des Norwegers Jon Fosse werden auf dem Programm stehen; auch offenes Theater und Grenzgänge zur Literatur sind geplant. „Es ist für Schauspieler und Publikum gleichermaßen reizvoll, Stücke zu spielen und zu sehen, über die der – na sagen wir mal – theaterinterne Überwachungsapparat noch nicht drübergeguckt hat.“ Risiken sind inbegriffen. „Und das ist gut so.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen