: Wenn Eltern zu sehr fördern
Zwei Jahre lang fühlte sich eine Charlottenburger Klasse von einer heute neunjährigen Mitschülerin terrorisiert. Doch die Schulleitung wollte sich nicht mit den Eltern anlegen
Monatelang haben die Eltern einer 4. Grundschulklasse in Charlottenburg an die Rektorin und die Schulaufsicht appelliert. Doch die Bitte, die neunjährige Sandra (Name geändert) aus der Klasse zu nehmen, stieß bei den Verantwortlichen auf taube Ohren. Sandra, so die Klage der versammelten Elternschaft, sei ein gestörtes Mädchen, das mit seinen Aggressionen nahezu jeglichen Unterricht verunmögliche.
Das Mädchen schreie stundenlang in einer Tonlage, die selbst Oskar Matzerath in Günter Grass’ Blechtrommel alle Ehre machen würde. Es schlage und trete um sich und habe dadurch schon etliche Kinder verletzt. Mehrere Lehrer hätten wegen des Mädchens bereits das Handtuch geworfen.
Als die Situation trotz zahlreicher mündlicher und schriftlicher Eingaben am ersten Schultag nach den Sommerferien unverändert war, schritten die Eltern zur Selbsthilfe. Der Unterricht wurde am Dienstag kurzerhand in das nahe der Schule am Savignyplatz gelegene griechische Lokal „Terzo Mondo“ verlegt, wo sich die Eltern selbst als Pädagogen betätigten.
Für den gestrigen Mittwoch luden sie die Medien zum Mathematik-Anschauungsunterricht ins Exil. Kaum war die Einladung raus, wurde die Pressekonferenz jedoch wieder abgesagt, denn plötzlich lief alles wie geschmiert: Auf persönliche Anordnung des Leiters des Landesschulamtes, Ludger Pieper, hin bekommt Sandra seit gestern Einzelunterricht.
Die Eltern der anderen Kinder sind froh. Sie fragen sich aber, ob es üblich ist, dass man erst mit der Presse drohen muss, bevor die Verantwortlichen tätig werden. Oder hat die Rektorin der besagten Grundschule das Problem nur aus Unfähigkeit zwei Jahre lang verschleppt? Zumindest von einem sind die Eltern überzeugt: Die Schulleiterin habe nicht zuletzt deshalb so gezaudert, weil sie sich mit Sandras Vater, einem Hochschulprofessor, nicht anlegen wollte.
Zu dem Naturwissenschaftler und dessen Frau hat von den Eltern der Klasse schon lange keiner mehr Kontakt. Sandra und ihre drei Geschwister seien sehr zu bedauern, sind sich die anderen Väter und Mütter einig. „Das Zuhause der Kinder ist eine eisige Zuchtanstalt für Genies.“
Der Leiter des Schulamtes, Ludger Pieper, bezeichnete es gestern als böse Unterstellung, die Rektorin hätten sich von dem Professorentitel des Vaters beeindrucken lassen. „Es gehört zu einer demokratischen Gesellschaft, dass alle Vertreter gleich behandelt werden“. Der Hauptgrund, warum in dem Konflikt „ziemlich viel Zeit ins Land gegangen ist“, sei, dass Sandras Eltern bislang „wenig kooperativ“ gewesen seien, sagt Pieper.
Die Frage, was mit Sandra geschehen solle, könne nicht ohne deren Eltern geklärt werden. Diese seien bei den anberaumten Gesprächsterminen aber stets „verhindert“ gewesen. Um eine vernüftige Lösung zu finden, so Pieper, müsse man jedoch wissen, „was die Ursache“ für das Verhalten des Mädchens sei. Rein theoretisch käme auch eine Rückkehr des Kindes in die Klasse in Betracht.
Die Zeit drängt. Den luxeriösen Einzelunterricht kann Sandra nur bis zur Einschulung der ABC-Schützen am kommenden Wochenende bekommen.
PLUTONIA PLARRE
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