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Computer-Sokratiker

Eine Einführung per Audio-CD in die Thesen des luziden Informatikphilosophen Gotthard Günther

Gotthard Günther dachte SciFi, Hegel und Standortfragen zusammen

„Hutzelig“ soll Gotthard Günther gewesen sein. Als Skifahrer und Segelflieger war er Spezialist für Fortbewegung auf gleitenden Grundlagen. Dabei muss es ihm in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass es die Umgebungen – oder philosophisch gesagt, die Kontexte – sind, die über Gelingen oder Nicht-Gelingen einer verfolgten Methode entscheiden. Die Theorie der Rechenmaschinen war für ihn eine wissenschaftlich plausible Möglichkeit, die Grenzen zwischen Geistes- und Ingenieurwissenschaften aufzuheben. Der Begriff Kybernetik bezeichnet diese neue Einheitswissenschaft der Steuerungsmechanismen und logischen Verschaltungen von Menschen, Computern und Systemen überhaupt.

Die Audio-CD „Lebenslinien der Subjektivität“ ist nun eine Gelegenheit, die Thesen des ungewöhnlichen Philosophen kennen zu lernen, durch schlichtes Zuhören. Dabei entdeckt man, wie Günther Science-Fiction-Literatur, Standortfragen und Hegels Logik zusammendenken konnte.

Heinz von Förster, Günthers berühmterer Kollege, ist ebenfalls auf der CD zu hören. Er schildert knapp seine erste Begegnung mit dem deutschen Emigranten, der 1900 in Schlesien geboren wurde, über Südafrika in die USA floh, in den Siebzigerjahren nach Deutschland zurückkehrte und 1984 in Hamburg starb. Von Förster fasst Günthers Idee der kontexturalen Logik bündig zusammen. Üblicherweise spekuliere die Logik abstrakt über den Wahrheitsgehalt von Sätzen und nehme dazu trockene Beispiele wie „Sokrates läuft“. Günther gehe nun davon aus, dass der logische Wert eines Satzes nicht abstrakt entschieden werden kann. Es müsse zunächst gefragt werden, ob jemand überhaupt wissen möchte, dass Sokrates läuft. Diese Frage sei nicht generell mit Ja oder Nein beantwortbar.

Das bedeutet für Günther jedoch nicht, dass man die traditionelle philosophische Literatur beiseite lassen kann. Für ihn bietet gerade die Philosophie Hegels und Kants einen gewissermaßen deutschen Standortvorteil. Nach Günther sind Fragen der Kybernetik bereits bei beiden vorgedacht, und deshalb kann jeder aufmerksame Leser ihrer Schriften am Bau von Rechenmaschinen mitwirken. Diese Überzeugung trägt Günther 1965 unter dem beeindruckenden Titel „Transzendentalphilosophische Grundlagen der Kybernetik“ vor und drückt die Sorge aus, dass die deutsche Gelehrtenrepublik diese Chance verstreichen lassen könnte. Wie richtig sein Verdacht war, erkennt man, wenn nun – 35 Jahre später – die Aufholjagd Deutschlands und Europas gegenüber der US-amerikanischen Informationswirtschaft beginnen soll.

Im Booklet der CD sind Buchumschläge der Science-Fiction-Romane „Ich, der Robot“, „Der unglaubliche Planet“ und „Wing 4“ abgebildet. Denn Günther beherrschte außer dem Werkzeug philosophischer Begriffe auch die Klaviatur populärer Formulierungen: 1951 fungierte er als Herausgeber der „Weltraum-Bücher“ im Rauch-Verlag in Düsseldorf. Als solcher war er überzeugt, dass die Konzepte der automatischen Steuerung von Maschinen nicht als „fertige Daten“ in das allgemeine Bewusstsein dringen, sondern zunächst als mythologische und fantastische Bilder ihre Bahn nehmen.

Heikel ist manchmal die sinnliche Vermittlung Günthers. Einigen Tracks der CD liegen private Aufnahmen zu Grunde, die mit einem schlichten Kassettenrekorder aufgezeichnet worden sind. Der Kontext des Gesprächs – ein naher Flughafen und Geräusche aus der Nachbarschaft – kommt hier vernehmlich zur Geltung, zugleich wird die Vergänglichkeit der magnetischen Speichertechnik deutlich. Von zahlreichen Kassetten und Originaltonaufnahmen Günthers sind nur noch wenige mehr schlecht als recht abspielbar. Der Großteil wird wahrscheinlich für immer verloren sein. Das ist tragisch, weil Günther neben den bekannteren Pionieren der Computertheorie wie Shannon, von Neumann und Wiener die Nachwelt beschäftigen wird. Spätere Generationen werden fragen, warum man ausgerechnet im multimedialen Zeitalter so wenig Wert auf die Konservierung der technischen Aufzeichnungen gelegt hat, mit denen die Computer-Sokratiker ihre Gedanken festhielten.

Günthers wissenschaftlicher Nachlass befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sowie im Gotthard-Günther-Archiv an der Universität Salzburg. Vielleicht sind dort noch Bemerkungen zur digitalen Spaltung der Gesellschaft zu entdecken und anderen Themen, die die aktuelle Standortpolitik bestimmen. Bei Beratungen über die deutsche Computerkreativität können Dokumente aus Günthers Hinterlassenschaft noch immer mit wohl überlegten und langfristigen Perspektiven dienlich sein. NILS RÖLLER

Gotthard Günther: „Lebenslinien der Subjektivität“, Audio-CD, 77 Min., supposé, Köln 2000, 38 DM

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