Chinas Symphonie der Tycoone

In Hongkong trumpfen die Wirtschaftsbosse vor den Wahlen am Sonntag auf wie in alten Kolonialzeiten. Die Vertreter der Demokratiebewegung werden machtlos bleiben

PEKING taz ■ Hongkongs Schlagzeilen dieser Woche auf einen Blick: Der Vizepräsident der alt-ehrwürdigen Hongkong-Universität muss zurücktreten, weil er die Meinungsumfragen eines universitätseigenen Instituts unterbinden wollte, in denen der von Peking eingesetzte Regierungschef immer schlechter abschnitt. Greenpeace-Aktivisten entern einen Schlepper, der verseuchten Schlamm im Hafengebiet ablädt. Und ein Prozess erregt Aufsehen, in dem eine 26-jährige Frau ihren 20-jährigen Ex-Partner wegen Vergewaltigung anklagt, nachdem sie sich weigerte, Sex ohne Kondom zu machen.

So macht Hongkongs Alltag Spaß: Polit-Skandale unterhalten das Volk. Öko-Akionen liefern dramatische Fernsehbilder. Sex-Prozesse lüften die Schleier des Nachtlebens im größten Hafen des Südpazifiks. All das scheint für die drei Millionen Wahlbürger Hongkongs derzeit von größerem Interesse zu sein als die Wahlen an diesem Sonntag zum Legislativrat, dem halbdemokratischen Parlament der südchinesischen „Sonderverwaltungszone“. Damit aber ist drei Jahre nach der Rückgabe Hongkongs an China ein alter Normalzustand der ehemaligen britischen Kronkolonie wieder erreicht: Die Wirtschaft summt, die Politik ist stumm, und das Volk stellt sich dumm.

Mit über zehn Prozent Wachstum im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hat Hongkong in den ersten sechs Monaten des Jahres die schnellste Wirtschaftsentwicklung in Asien. Dementsprechend höhnen die Wirtschaftsbosse vor der Wahl über die Mühen unpopulärer Politiker. „Medien und Politiker spielen zusammen eine Symphonie“, spottete kürzlich der Tycoon Li Ka-shing, der mit Immobilien, dem Betrieb von Häfen und Mobiltelefondiensten zu Hongkongs reichstem Mann wurde.

Li empörte sich über die Aufdeckung eines Skandals in den Medien, die einem Peking-treuen Mitglied des Legislativrats vorwarfen, vertrauliche Gesetzesvorlagen aus dem Parlament an Mitarbeiter Lis weitergegeben zu haben. Als der Tycoon im Zuge der Enthüllungen drohte, seine Investitionen aus Hongkong abzuziehen, geschah etwas Seltenes: Viele Bürger nahmen Li beim Wort und traten einer Unterschriftenkampagne bei, die dem allmächtigen Konzernboss vorwarf, andere politische Auffassungen auf erpresserische Weise unterdrücken zu wollen.

Die Bürgeraktion rief Hongkongs politisches Potenzial in Erinnerung. Immer seit den Millionenprotesten 1989 gegen die blutige Niederschlagung der Studentenproteste in Peking schlug Hongkongs Herz in Schlüsselsituationen überraschend demokratisch. Es gab viel beachtete Demonstrationen für chinesische Dissidenten und zuletzt bei den Legislativratswahlen 1998 einen klaren Sieg für die Peking-kritische Demokratische Partei des Bürgerrechtlers Martin Lee. Doch jedesmal, wenn die Demokratie aufflackerte, geschah etwas Wichtiges an der Börse, und flugs beteten die Hongkonger wieder für ihre Wirtschaftsbosse. Als 1998 die Asienkrise die Stadt erwischte, kam sie erst wieder auf die Beine, als der Sohn des Tycoons Li das Internet entdeckte und zigtausend Bürger dessen neue Aktien kauften.

Martin Lee ficht das nicht an. Der unermüdliche Anwalt wird wohl auch an diesem Sonntag die Wahlen gewinnen. Er hofft auf 40 bis 50 Prozent der Stimmen und neun von 60 Sitzen im Legislativrat. „Alles andere wäre eine Katastrophe“, sagt Lee, wohl wissend, dass die eigentliche Katastrophe für seine Partei in dem Wahlsystem liegt, das Peking von der früheren Kolonialmacht übernahm. Demnach werden nur 24 Parlamentssitze in freier Abstimmung vergeben werden. Der Rest wird von angeblich repräsentativen Teilen der Stadt im kleinen Kreis nominiert und sorgt für ein mehrheitlich den Interessen Pekings und der Unternehmerlobby höriges Parlament. Kein Wunder, wenn einige der aktivsten Abgeordneten nicht mehr in den kolonialen Parlamentsbau inmitten der Banktürme im Stadtzentrum zurückkehren wollen. Sie haben die Sisyphusarbeit im Kampf gegen die von Peking gedeckte Exekutive satt – allerdings nicht ihre Heimatstadt. Denn natürlich ist Hongkong noch die freieste Stadt auf dem chinesischen Festland. Wo sonst im Riesenreich wagen Frauen Vergewaltigungsprozesse, kann Greenpeace Schiffe entern und die Öffentlichkeit Universitätspräsidenten stürzen? GEORG BLUME