: Wider das Einheitsdenken
von PIERRE BOURDIEU
Der Neoliberalismus zielt auf die Zerstörung des Sozialstaats, der linken Hand des Staates, d. h. auf die Abschaffung all dessen, was sich nach der Logik der cost efficiency nicht rechnet. Am augenfälligsten ist dies im Falle des Gesundheitswesens, das von der neoliberalen Politik gleich von zwei Seiten angegriffen wird: Zum einen erhöht sich die Zahl der Kranken und der Krankheiten und zum anderen werden die medizinischen Ressourcen, die Möglichkeiten ihrer Behandlung eingeschränkt. Ganz allgemein gesprochen verursacht eine Politik, die sich an der Kosteneffektivität orientiert, reale gesellschaftliche (kollektive) Kosten in beträchtlicher Höhe, die, wenn man sie in die Rechnung hineinnimmt, das Absurde dieser Politik deutlich machen. In Europa haben wir es mit dem Paradox eines neoliberalen Staates zu tun, der die Umschulung des Kollektivs zum Neoliberalismus begleitet, indem er ein (in christlicher Tradition stehendes) Ethos des freiwilligen Dienstes bemüht, das vielfältigen sozialarbeiterischen Aktivitäten als Orientierungshilfe dient: einerseits um die vom Schulsystem produzierten, inzwischen aber sozial deklassierten Elemente, die Inhaber von entwerteten (entqualifizierten) Abschlüssen zu beschäftigen – siehe etwa in Frankreich die so genannten nationalen Werkstätten –, indem man sie von Leuten in vergleichbarer Situation (Sozialarbeitern, Projektleitern usw., die manchmal gegenüber jugendlichen Nordafrikanern durchaus verständnisvoll und engagiert sind) betreuen lässt; andererseits um Schulabbrecher von der Straße zu holen, indem man ihnen eine Scheinarbeit anbietet und sie zu Arbeitnehmern ohne Arbeitslohn, Unternehmern ohne Unternehmen, Langzeitstudenten ohne Aussicht auf einen Abschluss oder eine Qualifizierung macht. Alle diese Einrichtungen der sozialen Betreuung erzeugen, was sich insbesondere in der inflationären Vermehrung von Kürzeln (wie etwa im Ausbildungswesen) und von Trägerorganisationen ausdrückt, einen Vernebelungseffekt, durch den Arbeit und Nichtarbeit, Studium und Arbeit usw. ineinander verschwimmen, und befördern auf diese Weise eine kollektive self-deception, an der Betreuer und Betreute gleichermaßen mitwirken, ebenso wie sie den Glauben an eine Talmiwirklichkeit stimuliert, die im Zauberwort des Projekts (ohne Zukunft) symbolischen Ausdruck gefunden hat.
Hinter all diesen Einrichtungen der Sozialarbeit verbirgt sich eine karitative Sozialphilosophie, eine Art Existenzialismus der armen Leute, eine softe Soziologie, die voller Verständnis für die ist, mit denen sie zu tun hat, und die, weil sie den Standpunkt der Subjekte einzunehmen behauptet, die sie aktivieren möchte (Aktionssoziologie), am Ende nicht umhinkann, sich die mystifizierte und mystifizierende Vorstellung von der Sozialarbeit zu Eigen zu machen (anstatt sie zu objektivieren). Damit ist sie Gegenpart einer streng wissenschaftlichen Soziologie, die unter diesem Gesichtspunkt letztlich als deterministisch und pessimistisch erscheinen muss, da sie die strukturellen Zwänge protokolliert.
Fest steht, dass der Verfall des Sozialstaats einhergeht mit einer Fortentwicklung des staatlichen Strafpotentials. Diese in den Vereinigten Staaten, wie Loïc Wacquant gezeigt hat, überaus markante Tendenz ist in Europa noch relativ unausgebildet. Insbesondere auch deswegen, weil sich der Sozialstaat, wenn auch in der mehr oder weniger fiktiven Gestalt, wie ich sie beschrieben habe, erhalten konnte. Deswegen muss man sich auch davor hüten, diese Einrichtungen klein zu reden, wenngleich man sich in ihrer Bedeutung auch nicht täuschen sollte. Auch wenn sie eine mystifizierende Funktion haben und an der sozialdemokratischen Scheinheiligkeit partizipieren (deren Höhepunkt zweifellos das Gesetz zur Einführung der 35-Stunden-Woche ist, gleichsam ein trojanisches Pferd, mit dessen Hilfe in Frankreich Flexibilität und Jahresarbeitszeitkonto durchgesetzt wurden), auch wenn sie Ersatzlösungen anbieten und als Alibi für eine Politik auftreten, die Unternehmen wie Arbeiter tatsächlich ihrer unsicheren Situation zu entreißen unternähme und ihnen Kontinuität und Zukunft verschaffte, so stehen sie doch nach wie vor auch dafür, dass der Staat mehr schlecht als recht präsent ist. Auch wenn sie mit der erklärten Absicht angetreten sind, den neuen Geist des Kapitalismus zu vermitteln – will sagen: Selbsthilfe als Ersatz für Unternehmungsgeist und als begleitende Maßnahme Sozialpolitik in einer ausgesprochen voluntaristischen Form und umkränzt vom Heiligenschein der christlichen Soziallehre –, so könnten sie letztendlich auch die Wirkung haben, subversive Aktivitäten zugänglich zu machen und diesen eine Sprache zu verleihen.
Freilich ist staatliches oder parastaatliches Handeln (also zum Beispiel auf der Ebene der Gemeinden und karitativen Verbände) nur ein, wenn auch entscheidender Aspekt der sich herausbildenden symbolischen Formen von Herrschaft. Wie man schon an dem Kult sehen kann, der mit dem Begriff Projekt getrieben wird, haben die Intellektuellen bei der Verwaltung des Elends und der Erfindung von Instrumenten zu seiner Beschwichtigung eine enorm wichtige Rolle übernommen. Und das liegt ohne Zweifel daran, dass die neue Herrschaftsform großenteils auf Glaubenshaltungen beruht. Neben der großen Seinskette, in der sich die Nobelpreisökonomen mit ihren kristallklaren mathematischen Modellen mit den in der Analyse einer rüden und morastigen Realität befangenen Alltagsökonomen verbunden wissen, gibt es eine zweite Kette, die nicht eigentlich mit jener verknüpft ist (wenngleich die großen Ökonomen, die eine Art Deus absconditus sind, der sich ansonsten dem Laisser-dire verschrieben hat, keineswegs darauf verzichten, gelegentlich höchstpersönlich in Erscheinung zu treten, und zwar stets, um die Tugenden des Laisser-faire zu rühmen), und zu dieser gehören die großen angelsächsischen Handelsblätter wie Business Week oder Financial Times sowie Wirtschaftswochenzeitungen wie Le Nouvel Économiste, aber auch große Tageszeitungen wie Le Monde oder Libération. Wirtschaftsjournalisten und berühmte Leitartikler, möchte der Firnis ihrer ökonomischen Bildung auch noch so dünn sein, und ebenso im Journalismus tätige Intellektuelle haben, vermutlich mehr aus Unwissenheit und Inkompetenz denn aus Zynismus, diese kollektive Bekehrung zum Neoliberalismus, die sie selbst gerade vollzogen, wortreich untermalt. Und die symbolische Vorherrschaft des amerikanischen Modells hat in großem Maße zu diesem Prozess beigetragen, zumal durch Übernahme der vielen Wörter, die allesamt von der neuen Sozialphilosophie durchtränkt waren.
Angesichts einer dermaßen komplexen und auch ausgefeilten Herrschaftsform, bei der der Macht des Symbolischen eine so zentrale Rolle zukommt, gilt es, neue Kampfformen zu erfinden. Da Ideologen und Ideen in diesem Kontext ihren besonderen Platz haben, müssen auch die Wissenschaftler eine herausragende Rolle übernmehmen. Sie müssen mit dafür sorgen, dass dem politischen Handeln neue Ziele gesetzt, die herrschenden Glaubenshaltungen aufgelöst und neue Instrumente gefunden werden, als da wären technische Waffen, die sich aus der Forschung und aus qualifizierter wissenschaftlicher Arbeit herleiten, sowie symbolische Waffen, die geeignet sind, gängige Glaubensvorstellungen über den Haufen zu werfen, weil sie den Ergebnissen der Forschung eine anschauliche Form geben.
Zu den eigentlichen Folgen des Neoliberalismus als einer konservativen Revolution, durch die die Bedeutung sämtlicher Positionsbestimmungen verkehrt wurde, kommen noch die Folgen sozialdemokratischer Heuchelei hinzu, der eine zweite Bedeutungsverschiebung zu verdanken ist, welche den Effekt falschen Wissens noch verstärkt hat. Gegen einen solchen Gegner ist das Wissen eine wirksame Waffe, zumal dann, wenn es um eine Kritik der Effekte falschen Wissens ergänzt wird, die ja letztlich immer darauf aus sind, das Opfer ins Unrecht zu setzen (den Lehrern Konservatismus vorzuwerfen oder den im Gesundheitswesen oder im Erziehungsbereich Tätigen die Verantwortung für die Krise aufzubürden, deren erste Opfer sie doch sind).
Welches sollte im Kontext dieser Kämpfe die Rolle der von uns vorgeschlagenen europäischen Sozialbewegung sein? Ich bin natürlich der Letzte, der leugnen würde, wie zutiefst utopisch, riskant und wenig wahrscheinlich eine solche Bewegung ist: Die Bewegung, die eine Utopie zu ihrem Zweck erklärt hat, nämlich ein Europa, in dem alle kritischen sozialen Kräfte, die heute noch sehr vielgestaltig und zersplittert daherkommen, hinreichend vereint und organisiert wären, um eine einheitliche Kraft kritischer Bewegung zu bilden, diese Bewegung ist an sich selbst schon eine Utopie, wenn man bedenkt, wie zahlreich die sprachlichen, wirtschaftlichen und technischen Hindernisse auf dem Wege zu einer solchen Sammlungsbewegung sind. Was gelegentlich als eines der praktischen Hindernisse angesehen wird, dass es nämlich zahllose Bewegungen gibt, die sich ebenfalls – sei’s vollständig, sei’s teilweise – die von uns benannten Ziele gesetzt haben, das ist ja gerade der erste und wichtigste Grund, ein solches kollektives Unternehmen anzugehen, das eben nicht die vielen Aktivitäten annektieren oder monopolisieren, sondern vereinen und integrieren soll, indem es Initiativen verknüpft und zusammenfügt und allen Einzelpersonen und Organisationen, die sich auf diesem Terrain engagiert haben, um die Auswirkungen des vorhandenen Neben- und Gegeneinanders zu überwinden, bei ihrer Aufgabe zu helfen. Es geht also vor allem darum, ein globales politisches Projekt zu entwickeln, das heißt ein kohärentes Ganzes von Alternativvorschlägen, die von Wissenschaftlern und Akteuren gemeinsam erarbeitet werden (dabei ist jede Instrumentalisierung der Ersteren durch Letztere und umgekehrt zu vermeiden) und die eine Vereinheitlichung der sozialen Bewegung dadurch in Gang bringen können, dass die Divergenzen zwischen den nationalen Traditionen und innerhalb der jeweiligen Nationen die Divergenzen zwischen den Berufsgruppen (zumal zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen), zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den ethnischen Gruppen (Migranten und Einheimische) aufgehoben werden. Zugleich sollen die sowohl theoretischen wie praktischen kritischen Aktivitäten aller sozialen Bewegungen koordiniert werden, die es inzwischen gibt und die darauf hinwirken, die Mängel des entpolitisierenden Denkens und Handelns der mit dem Regieren betrauten Sozialdemokratie zu beseitigen; ebenso soll eine neue Form der Politik gefunden werden, das heißt andere Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung, der Diskussion und Mobilisierung auf unterschiedlichen Ebenen (international, national und lokal, im Verein mit Stadträten, Betriebsräten, Vertretern des Handwerks, der Dienstleistungen und der Universität usw.), mit deren Hilfe in der Praxis ein wahrhaft demokratischer Internationalismus etabliert werden kann.
Es versteht sich von selbst, dass die soziale Bewegung bei ihren diversen Aktionsformen unbedingte Unterstützung seitens der ihr strukturell und politisch nahe stehenden Presse bedarf. Der kritische Journalismus ist hinsichtlich einer solchen engen Zusammenarbeit ja ohnehin selbst umso mehr interessiert, als er wie alle anderen nicht marktgerechten und mit dem Einheitsdenken des neoliberalen Zeitgeistes konform gehender kultureller und politischer Ausdrucksformen ja selbst unter massiven ökonischem Druck steht. Aber noch gibt es Blätter wie Le Monde Diplomatique, die aufgrund ihrer internationalen Ausstrahlung, nicht zuletzt dank der Zusammenarbeit mit nationalen Printmedien wie der tageszeitung in Deutschland, zu einem wichtigen Verstärker und Katalysator eines neuen Internationalismus werd. Noch gibt es den kritischen Journalismus in unseren verschiedenen nationalen Kontexten wie etwa in Gestalt von Charlie Hebdo in Frankreich, der Wochenzeitung in der Schweiz oder der taz. Und dieser verdient unsere ungeteilte Solidarität und Unterstützung, wenn er wie im Falle der taz gegenwärtig wieder einmal in eine finanzielle Krise gerät. Meiner Sympathie und Solidarität möchte ich hiermit ganz persönlich Ausdruck geben: taz muss sein, weil die soziale Bewegung sie braucht.
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