Der Hase besiegt die Meute

Zwischen Becherbergen und gut gelaunten Berlinern fällt der Kenianer Simon Biwott aus seiner Rolle und gewinnt den 27. Hauptstadt-Marathon. Eigentlich sollte er bloß Tempo machen für die Favoriten

von HOLGER STRÖBEL

Was bleibt, sind Becher. Berge von Bechern, die sich am Straßenrand türmen, zur Seite geschleudert von den Fahrzeugen des Roten Kreuzes und den beiden olivgrünen Bundeswehrbussen, die am Ende des Felds die letzten Läufer vor sich her treiben. Oder zum Einsteigen nötigen, bevor diese zusammenzusacken drohen.

Hier ist nichts zu spüren von Volksfest und Samba und Gemeinschaftserlebnis. Stattdessen: gequälte Gesichter und taumelnde Körper. Freiwillige vom Technischen Hilfswerk befreien bereits den Grünstreifen am Landwehrkanal von Unrat, Kollegen bauen die Dixie-Toiletten ab und das kurz zuvor noch entspannt vor sich hinzupfende Jazztrio packt die Instrumente ein. Es ist kurz nach elf Uhr in Kreuzberg, und man ist erst bei Kilometer 13.

Zeitgleich bekreuzigt sich rund 29 Kilometer weiter Simon Biwott und trabt auf den letzten Metern locker über den Kurfürstendamm dem Ziel entgegen. Zwei Stunden, sieben Minuten und 42 Sekunden hat der Kenianer benötigt, um die 42,195 Kilometer zurückzulegen. Das war nicht so geplant. Weder dass Biwott so schnell laufen würde – noch dass er überhaupt das Ziel erreicht.

Es ist eine Überraschung, man kann auch behaupten: eine Sensation. Enttäuschte Konkurrenten würden vielleicht auch sagen: eine Ungerechtigkeit, weil entgegen den Abmachungen. Beziehungsweise nicht sagen, höchstens denken. Denn Simon Biwott hatte beim 27. Berlin-Marathon eine Funktion zu erfüllen. Er war einer der Pacemaker, im Fachjargon auch sinnigerweise „Hase“ genannt. Also einer der Läufer, die vom Veranstalter eigens engagiert werden, um für die Topfavoriten das Tempo vorzugeben – so dass diese ihren Rhythmus behalten und im Bereich der Bestzeit bleiben.

Doch irgendwo auf der Höhe des Steglitzer Rathauses muss sich Simon Biwott das Ganze anders überlegt haben. Bei Kilometer 28 sollte er eigentlich aussteigen und das Feld den Stars überlassen. Etwa seinem Landsmann Jackson Kabiga und dem spanischen Rekordhalter Fabián Roncero, die er auf den Kilometern zuvor an der Spitze des Felds begleitet hatte. Doch Biwott lief weiter. Und nur Antonio Pena konnte folgen. Doch auf Höhe der Uhlandstraße zog der 30-Jährige das Tempo erneut an und nahm seinem spanischen Verfolger nochmals 14 Sekunden ab.

Ganz sicher profitierte Biwott von Olympia. Die 50.000 Mark Preisgeld wären wesentlich schwieriger zu gewinnen gewesen, würde nicht in wenigen Tagen der Marathon in Sydney gestartet werden. Maximal zwei Wettbewerbe können Spitzenathleten pro Saison auf höchstem Niveau bewältigen. Deshalb bot die Millenniumsauflage der größten deutschen Veranstaltung dieser Art Außenseitern gute Gewinnchancen.

Biwott hat sie genutzt, genauso wie Kazumi Matsuo bei den Frauen. Die Japanerin kam in 2 Stunden, 26 Minuten und 14 Sekunden zirka 30 Meter vor der italienischen Favoritin Franca Fiacconi ins Ziel, die 1998 in New York gewonnen hatte.

Bei den beiden anderen Klassements gab es jedoch keine Überraschungen. Wie erwartet war der 41-fache Weltmeister Chad Hedrick (USA) der schnellste Inline-Skater. Und der Schweizer Heinz Frey kam mit dem Rollstuhl bereits zum 13. Mal als Erster durchs Ziel am Ku’damm.

Die beiden Ausnahmeathleten konnten ihre Erfolge relativ gelassen und unbehelligt genießen. Sie hatten die Ziellinie schon überquert, als sich das Berliner Publikum erst langsam dazu aufmachte, seinem Ruf als spaßiges und begeisterungsfähiges Volk gerecht zu werden. Und die größte Reportertraube bildete sich sowieso nicht um sie, sondern um Joschka Fischer. Die Kollegen konnten aufatmen: Trotz wieder zunehmenden Hüftumfangs, erreichte der asketische Minister das Ziel nach knapp vier Stunden und war zufrieden.

Genauso wie die Veranstalter vom SC Charlottenburg. Schließlich konnte sich die Siegerzeit sehen lassen (nur vier Läufer waren im diesem Jahr schneller als Biwott), erstmals musste nach knapp 34.000 Anmeldungen die Teilnehmerliste vorzeitig geschlossen werden, außer ein paar Hautabschürfungen nach Stürzen bei den Inline-Skatern gab es keine größeren Verletzungen, und sogar die Sonne blinzelte durch die Wolken, als das Spitzenfeld die Cheerleaders und Sambatrommler am Wilden Eber zwischen Dahlem und Wilmersdorf passierte.

Nur der ältere Herr vor der Shell-Tankstelle am Tempelhofer Ufer knitterte ungehalten seine Bierdose, als er den einsamen Kampf der letzten Läufer gegen ihren inneren den Schweinehund und die Versorgungsfahrzeuge hinter ihnen mit ansah: „Dass die in ihrem Alter nichts Besseres zu tun haben . . .“ Er schüttelte den Kopf, warf die Dose zu den Plastikbechern am Rande des Rinnsteins und trollte sich gen Tankstelle. Ein neues Bier holen.