: Die Alte und das Schießeisen
Erst die Sache mit der Pistole, dann die Rentnerdemo: Onute Litviniene hat Pläne
aus Vilnius BERNHARD ALBRECHT
An einem Freitagmorgen packt die Rentnerin Onute Litviniene eine Pistole in ihre Handtasche, setzt sich in den Bus und fährt in die Innenstadt von Vilnius. Um ihren Hals hängt ein mit Filzstift vollgeschriebenes Pappschild, der erste Satz darauf: „Vampire! Wie viele Menschen werden sterben?“ Am litauischen Parlamentsgebäude steigt sie aus, stellt ihre Handtasche auf das Fließband der Sicherheitsschleuse, ein Wachmann tastet sie ab. Er mustert sie misstrauisch, denn Onute ist den Tränen nahe, die Augen sind verquollen, die Mundwinkel zucken. Dann gibt er ihr die Handtasche zurück. Zielstrebig steuert Onute auf eine Abgeordnete in der Vorhalle zu und verlangt mit bebender Stimme, die Arbeitsministerin Irena Degutiene zu sprechen.
„Die Ministerin soll mir mal erklären, wie ich mit 232 Litas Rente im Monat überleben soll.“ Zwei Litas sind rund eine Mark, 232 Litas also knapp 120 Mark. Die Abgeordnete nimmt die vollkommen aufgelöste Frau an der Hand, führt sie behutsam zu einer Bank und reicht ihr einen Becher Wasser. Die Arbeitsministerin sei heute im Ministerium, sagt sie. Jemand von der Pforte eilt hinzu und bietet an, dort anzurufen, ob Onute nächste Woche einen Termin bekommen könnte. Onute winkt ab, sie habe sowieso kein Vertrauen mehr zur Arbeitsministerin, und verlässt das Parlament. Draußen trifft sie auf Journalisten und ein Kamerateam.
Der große Tag
Nun beginnt der große Tag der Onute Litviniene.
Am Abend gehören ihr zehn Minuten im populären Boulevardmagazin „Ohne Tabu“, wirkungsvoll unterlegt mit Stealguitar-Musik. Vor der Kamera fuchtelt sie mit dem Revolver herum und droht: „Der Arbeitsministerin werde ich in den Hintern schießen. Egal wo, ich kriege sie!“ Am nächsten Tag bringt die große Tageszeitung Lietuvos Rytas die Geschichte von der verzweifelt mutigen Rentnerin auf Seite zwei.
Onute hat es geschafft. Für einen Tag ist die 57-Jährige der Star. Journalisten und Fotografen besuchen sie. Auch zwei Polizisten kommen und beschlagnahmen die Waffe. Erst aus dem Fernsehen haben sie von der Aktion erfahren. Fremde sprechen Onute auf der Straße an und danken ihr, dass sie die miserable Lage der Rentner ins Gespräch gebracht hat. In ihrem Heimatort Traku Voke, zehn Kilometer vor Vilnius, sagen die Kinder: „Schade, dass du nicht geschossen hast.“
Traku Voke: 1.500 Einwohner, 40 Kühe, ein Lebensmittelgeschäft, eine Kleingartenkolonie und einhundert Rentner. Graue, fünfstöckige Backstein-Wohnsilos aus der Sowjetzeit. Auch nach dreißig Jahren wirken sie noch wie Rohbauten, anstelle von Fensterrahmen getünchte Füllmasse, die Haustüren schließen mit handtellerbreiten Spalten.
Doch im kleinen Reich der Onute Litviniene herrscht bescheidener Wohlstand. Ein gepflegter blassbrauner Teppichboden kleidet die zwei Zimmer und den Flur aus. Im rosa tapezierten Wohnzimmer fallen ein gedrechselter Bauerntisch und die Schrankwand auf, beide Eiche massiv. Auf der Kommode steht ein Fernseher. An einer Wand Onutes schmales Holzbett. Das zweite Zimmer hat ihr 25-jähriger Sohn Eitaras für sich.
Eitaras – er ist Onutes Hoffnung. Tagsüber arbeitet er als Wachmann im Supermarkt, abends büffelt er fürs Juraexamen. Und Juristen gehören, neben Ökonomen und Staatsbeamten, zu den Bestverdienenden in Litauen. 6.000 Litas aufwärts im Monat, Spitzenleute bekommen bis zu 16.000. Wenn das gelingt, kann er ihr jeden Monat genug zuschießen. Jetzt schon greift ihr die ältere Tochter unter die Arme, die bei der Einwanderungsbehörde arbeitet und gut verdient.
Onute muss sich eigentlich wenig Sorgen um ihre Zukunft machen. Mit der Pistole ins Parlament, das hat sie wegen der Ehre getan. Und für die anderen Rentner, die keine wohlgeratenen Kinder haben. Und für ihren 12-jährigen Enkel, Klassenbester, der mit Computern umgehen kann und zu Onute sagt: „Oma, wenn ich groß bin, dann gehe ich ins Ausland. Hier haben wir doch keine Zukunft.“ Verbittert blickt Onute aus dem Fenster: „Dafür habe ich vor zehn Jahren vor dem Parlament gestanden, habe mein Leben riskiert, als die Sowjets mit Panzern angerollt kamen.“ Für ihren Enkel ist sie dahin gegangen, mit Sohn und Tochter. Damit der Enkel sein Leben in einem freien Litauen beginnen kann. Sie deutet auf eine Porzellanvase auf der Schrankwand. Dort hat sie ihr ganzes Erspartes reingesteckt und den Nachbarn gesagt, wenn wir erschossen werden, bezahlt die Beerdigung davon.
Eher Politikerin als Verrückte
Wenn Onute von ihrer Misere erzählt, fasst sie ihr Gegenüber scharf in ihre blauen Augen, über denen die sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen auf- und abtanzen. Ihre Stimme ist melodiös und sanft – wer ihre Sprache nicht versteht, könnte glauben, sie erzählt ein Märchen. In runden Bewegungen untermalen ihre ständig gestikulierenden Hände das Gesagte, nur wenn sie sich besonders echauffiert, fährt ihr Zeigefinger im Rhythmus der ausgestoßenen Wörter nach vorne. Gestreiftes Sakko, dunkelgrün-seidige Hose und sportliche Kurzhaarfrisur – eine Politikerin eher als eine Verrückte, die auf die Arbeitsministerin schießen will.
Onute rechnet vor: Im kommenden Winter, wenn geheizt wird, werden ihre 232 Litas Rente nicht mal für die Miete reichen. Die liegt dann bei 270 Litas. Für Lebensmittel, Waschmittel, Seife und andere Dinge des täglichen Bedarfs braucht sie monatlich 140 Litas. Über die Runden kommt sie, weil sie im eigenen Garten Obst und Gemüse anbaut, das fürs ganze Jahr reicht. Und wer weiß, wie lange sie das noch machen kann. Schließlich ist sie herzkrank und hat Wasser in den Beinen. Für die beiden Medikamente zahlt sie auch noch 25 Litas im Monat, die irgendwo herkommen müssen. Macht alles zusammen rund 440 Litas, und dann hat sie noch kein Kleid gekauft, keine Geschenke, keinen Bus benutzt, keinen Handwerker bezahlt, nichts.
Eine große Umstellung für Onute, die erst seit Mai in Rente ist. In den letzten Jahren hat sie gut gelebt, mit rund 1.000 Litas Einkünften im Monat. 34 Jahre hat sie in die Rentenkasse eingezahlt, lückenlos im Arbeitsbuch dokumentiert, jeder kann es sehen. Jeden Job hat sie angenommen, um ihre Kinder durchzubringen, alleine, denn ihre beiden Männer waren Alkoholiker. Als Sekretärin hat sie gearbeitet, als Verkäuferin, als Putzfrau, und nebenbei noch schnell den Hauptschulabschluss nachgeholt und ein Diplom in Lebensmittelfachkunde erworben.
Die letzten Jahre war Onute Krankenschwester auf einer Intensivstation. Da hat sie auch den schwerkranken Schwiegervater der Arbeitsministerin gepflegt. Den Schwiegervater eben jener Arbeitsministerin Irena Degutiene, die Onute für diese lächerliche Rente verantwortlich macht. War denn ihre, Onutes, Arbeit nichts wert? Und die Arbeit der ganzen anderen Rentner?
Zweimal im Monat fährt Onute mit dem Bus nach Vilnius zum Markt. Der Vorratskauf läuft immer nach dem gleichen Ritual. Vorbei an den fliegenden Händlern, die Plastiktüten von „Boss“ und „Aldi“ feilbieten, vorbei an Gemüse-, Obst- und Kleiderständen zu „ihrem Wurststand“. Die Verkäuferin („die betrügt mich nicht“) grüßt sie mit Namen. Onute kauft Wurst und Speck, zwei Kilo für 28 Litas. Sie kennt den billigsten Brothändler, sie weiß, wo die Eier 2,20 statt 2,60 kosten. Sahne, Margarine und Käse bringt ihr Sohn Eitaras vom Supermarkt mit, wo er arbeitet. Wenn das Verfallsdatum schon abgelaufen ist. Nach einer Viertelstunde hat Onute keinen Schein mehr im Geldbeutel. Ein Sechstel ihrer Rente hat sie am Markt gelassen.
Spektakuläre Aktion
Jetzt steuert Onute auf einen Unterschriftenstand zu. „Referendum“ steht auf einem großen Pappschild, ein hagerer Greis mit gelben Augäpfeln daneben. Endlich, ein Gleichgesinnter. Herr Levickas, so stellt er sich vor, ist 75 und arbeitet noch als Mittelschullehrer. Weil seine Rente vorne und hinten nicht reicht. Und das ihm, der viermal für dieses Land gekämpft hat und dabei fast sein Leben gelassen hätte.
Onute lässt seine Hand nicht mehr los, hört zu und nickt energisch, schlägt ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Schimpft auf die regierende „Konservative Vaterlandsunion“, die den Reichen in die Hände spielt. Wettert über Ex-Staatschef Landsbergis, der unverschämterweise sechstausend Litas Rente beantragt hat. Sechstausend! Erregt sich über die Mauscheleien um die Privatisierung der litauischen Ölindustrie. Flugs ergreift sie den Kugelschreiber und unterschreibt. Für niedrigere Staatsgehälter, höhere Renten, gegen die Ausbeutung der Landwirte und für die Direktwahl aller Parlamentarier.
Onute Litviniene, die künftige Politikerin? Sie winkt ab, krank sei sie, und das sei ihr zu viel Belastung. Und zwinkert mit den Augen. Immerhin – eine Karriere im „Rentnerkomitee“ von Litauen steht ihr bevor, die Vorsitzende hat sie gefragt, ob sie nicht in die Leitung einsteigen will. Eine spektakuläre Aktion hat Onute schon mitgeplant: Mehr als eintausend Rentner, also alle Mitglieder des Rentnerkomitees, wollen in einigen Wochen schwarz gekleidet zum Parlament marschieren, mit Slogans auf Plakaten wie: „Unsere Seele ist schon gestorben. Aber unsere Körper wollen noch essen.“
Wollte diese Frau wirklich auf die Arbeitsministerin schießen? Onute lacht. Nicht wirklich. Sicher – unglücklich sei sie gewesen, die ganze Nacht habe sie geweint, als sie damals vor einem Monat den Rentenbescheid bekam. 350 Litas hatte sie sich zuvor selbst ausgerechnet. 120 weniger, das war ein Schock. Aber dann, im Morgengrauen des kommenden Tages, fasste sie den Plan, nahm ein weißes Blatt und konzipierte den Text für das Plakat. „Vampire! ...“
Doch am Parlament stehen immer wieder Hungerleider mit Plakaten um den Hals, keiner schert sich um sie. Wie also einen spektakulären Auftritt inszenieren? Onute kramte die Knarre hinter dem Bett hervor. Es ist nur eine Gaspistole, ohne Patronen. Sie steckte sie in die Handtasche und ging zur Nachbarin. „Ruf an bei Lietuvos Rytas und ‚Ohne Tabu‘‚ und sag denen, ich gehe mit einer Pistole zur Arbeitsministerin und kämpfe für meine Rente.“ Es klappte.
Heute noch rätselt die Polizei, warum die Sicherheitsschleuse versagt hat. Und manche aus dem Parlament wollen sie jetzt verklagen wegen unerlaubten Betretens des Parlaments mit einer Waffe. „Aber“, sagt Onute, „die haben keine Chance. Schließlich hab ich die Pistole in der Tasche behalten, keiner kann’s mir nachweisen.“
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