Der Staat, dem Hauptstadt und Grenzen fehlen

Wird sich das Staatsgebilde Palästina als fortschrittliche Demokratie oder als Präsidialdiktatur entwickeln? Ist es wirtschaftlich lebensfähig?

JERUSALEM taz ■ Es gibt eine Fahne und eine Hymne, eine Polizeitruppe, eigene Briefmarken, eine staatliche Fluglinie und sogar einen Präsidenten. Es fehlen: ein mehr oder weniger zusammenhängendes Territorium, anerkannte Grenzen und eine Hauptstadt, abgesichert durch einen Friedensvertrag mit Israel.

Symbolisch wurde der Staat von PLO-Chef Jassir Arafat – ein wenig voreilig – schon am 15. November 1988 ausgerufen. Spätestens seitdem wird er vorbereitet: „Durch die Besatzung seit Juni 1967 lernten wir bei unserem Nachbarn Israel, neben Willkür und Unterdrückung, ein Demokratiemodell kennen, das wir bis dato nicht kannten, das uns beeindruckte und das wir auch haben wollen“, sagen viele Palästinenser. Zigtausende arbeiten in Israel, sprechen Hebräisch und haben israelische Kontakte.

Acht palästinensische Städte und der größte Teil des Gaza-Streifens erhielten durch die Oslo-Abkommen von 1993 volle und dutzende Gebietsflecken im Westjordanland begrenzte Autonomie „Die palästinensische Bevölkerung ist psychologisch längst zur Staatsgründung bereit“, glaubt der Historiker Dr. Adel Manna, ein israelischer Araber aus Galiläa. „Ob der Staat gut und lebensfähig wäre, ist eine andere Frage. Darüber sind die Meinungen geteilt.“

Der palästinensische Menschenrechtler Bassem Eid beispielsweise, Direktor der Ostjerusalemer „Palestinian Human Rights Monitoring Group“, ist überzeugt, dass dem Staat Palästina weit mehr als nur Territorium und Hauptstadt fehlen. „Ich fürchte, Palästina würde nicht besser als die meisten schwarzafrikanischen Staaten in den Sechzigerjahren nach Abzug der Kolonialmächte“, warnt er. „In den autonomen Gebieten werden die Menschenrechte auf skandalöse Weise verletzt und das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung grob missachtet.“ Das hat auch die Menschrechtsorganisation amnesty international dieser Tage bestätigt. „600 politische Gefangene sitzen in Palästina im Knast. 27 Menschen wurden zum Tode verurteilt, drei exekutiert. 23 Palästinenser starben in den letzten sechs Jahren in palästinensischen Folterkammern. Dutzende Journalisten, die Kritik an Korruption, Vetternwirtschaft und Willkür übten, wurden verhaftet und oft monatelang eingesperrt. Die rund 80.000 Mann starken Sicherheitskräfte schützen vor allem Arafat und seine Minister vor Protesten, statt die Sicherheit palästinensischer Bürger zu garantieren“, sagt Bassam Eid bitter.

Adel Manna bestreitet das nicht, weist aber auf andere Faktoren hin, von denen die Qualität eines Staates Palästina abhängen würde. „Palästina braucht Unterstützung durch die USA, die Europäische Union, die arabischen Nachbarn – was Israel entweder sabotieren oder fördern kann. Bekommt der neue Staat genügend Hilfe, kann er eine Infrastruktur entwickeln, Wohnungen bauen, Industrien gründen, die rund 30-prozentige Arbeitslosigkeit senken und Palästinenser aus dem Ausland aufnehmen. Demokratie wird dann hoffentlich stufenweise kommen: Jedem neuen Staat sollte eine Übergangsperiode zugestanden werden. Die Bevölkerung will einen demokratischen Staat, der liberaler ist als die arabischen Nachbarn. Alles ist besser als Besatzung.“

Die Autonomiegebiete besitzen freilich noch kein eigenes, einheitliches Justizsystem, wurden doch bisher im Westjordanland ottomanisches, britisches, jordanisches und israelisches, im Gaza-Streifen ägyptisches und israelisches Recht angewendet. Richter, Staats- und Rechtsanwälte müssen ausgebildet werden. Ein palästinensisches Schulsystems steckt in den Anfängen. Die neun Westufer- und Gaza-Universitäten bilden derzeit noch überwiegend für akademischen Export nach USA und Europa aus. Außer Milchprodukten, Soft-Drinks, Andenken und Lederwaren wird kaum etwas produziert, da Israel die Gebiete 33 Jahre lang für den Absatz eigener Erzeugnisse benutzte. Zur Schaffung von Industrie, moderner Landwirtschaft und Tourismus braucht Palästina nicht zuletzt eine gerechtere Aufteilung der Wasservorkommen, die Israel bisher rücksichtlos für seine eigenen Zwecke ausschöpft.

Optimisten wie Manna weisen auf das immense Potential hin, das die Menschen, wenn sie in Frieden miteinander leben, gemeinsam ausschöpfen können. Die neuen Hotels, Restaurants, Cafés, Discos und Kasinos, die in Städten wie Ramallah, Jericho, Bethlehem und Gaza entstehen, deuten äußerlich auf ein erstaunliches Maß an Hoffnung hin, mit der die palästinensische Gesellschaft der Staatsgründung entgegensieht.

Schüchterne Investitionen wurden in den letzten Jahren von US-Palästinensern gewagt, von denen rund 6.000 nach Abschluss der Oslo-Abkommen in die alte Heimat zurückzogen. Dazu gehört z. B. die Gründung der ersten Bierbrauerei „Taibe“ in einem Dorf bei Ramallah. Bei ihrer Erwähnung geht ein plötzliches Leuchten über das Gesicht des pessimistischen Menschenrechtlers Bassam Eid: „Die Bierlizenz ist das Einzige, was ich Jassir Arafat hoch anrechne. Sie gibt wenigstens Anlass zu der Hoffnung, dass hier kein islamischer Staat entsteht.“ ANNE PONGER