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Atmosphärische Störung

Die taz führt an die wahrhaft bösen Orte dieser Stadt. Teil 8: Der Rathausmarkt liegt auf dem Mond  ■ Von Eberhard Spohd

Gestern Mittag, 12.36 Uhr. Die Astronautin verlässt ihre Raumkapsel und stellt etwas Sensationelles fest: Der Mond besitzt doch eine Atmosphäre. Es regnet. Verwundert blickt sie sich um und vermeint, den Ort wiederzuerkennen. Er erinnert sie an einen Platz in einer deutschen Großstadt. Er sieht aus wie der Rathausmarkt in Hamburg.

Mit schweren Schritten geht sie über das geflieste Rechteck. Anmutig mäandern die Fugen der Platten dahin, nur hin und wieder unterbrochen von strukturierenden Kopfsteinpflaster-Intarsien. Interessant, denkt unsere Raumfahrerin, es hat ganz den Eindruck, als habe das ruhig daliegende Sternenschiff „SS Rathaus“ die Ladeklappen geöffnet und all diese Fliesen ausgespieen. Sie geht auf die Raumbasis zu, die zu ihrer rechten Hand liegt.

Die kleinen Pavillons, überspannt von einer hässlich-grünen Glas-Metall-Konstruktion, bieten verbranntes Bindehautgewebe als kleine Raumfahrer-Snacks an. Würstchen nennen die das hier also, denkt sie sich, und dass der Preis ja ein bisschen happig sei. In der benachbarten Bude stellt sie endgültig fest, dass sie definitiv nicht in Hamburg ist, sondern durch ein Wurmloch in ein Paralleluniversum gerutscht sein muss. Muscheln werden dort als Souvenir verkauft. So gut kann sie sich nun doch noch an die Erde erinnern, dass sie weiß, dass die Hansestadt nicht am Meer liegt.

Besonders entzückt ist die Kosmonautin über die kleinen Ahornbäume, die verzweifelt zu wachsen versuchen. Vielleicht, denkt sie, hätte man sie gleich richtig einzementieren sollen, vielleicht brauchen die das bisschen Erde um ihre Wurzeln herum gar nicht. Und erschrickt. Durch die Blätter schimmert ein Haus, das ganz stark an schändliche Nachkriegsarchitektur gemahnt. Wie gut, denkt sie sich, dass solche Gebäude auf der Erde irgendwann abgerissen und durch Weltraumbahnhöfe ersetzt wurden. Sie wendet den Blick ab.

Gut, dass unsere tapfere Frau gerade gestern gelandet ist. Sie ahnt ja nicht, dass dieser Platz schon viele Invasionen erlebt hat. So landen hier regelmäßig die Aliens vom Planeten Weindorf, um mit der ansässigen Population groß angelegte Drogenexperimente durchzuführen. Selbst Passagiere des „SS Rathaus“ wurden schon so weit getrieben, zu den Klängen seltsamer Instrumente in Veitstänze und Gesänge auszubrechen. Dieses Schicksal blieb unserer Heldin erspart.

Schnell stellt sie noch ihre Fahne auf. Dann wendet sie sich ab und geht so schnell, wie ihre Moonboots es ihr erlauben, über den Platz, um ihn hinter sich zu lassen. Hierher, da ist sie sich ganz sicher, möchte sie nicht mehr zurückkehren. Sie wird des kleinen Gewässers gewahr, das auf der anderen Seite liegt. Ein kurzer Blick auf die steinerne Stele. Zwei kauernde Gestalten hat ein Künstler eingemeißelt. Sie wenden sich von diesem öden Ort ab. Das ist nur verständlich, denkt sich die Astronautin, wirft sich ins Wasser und lässt sich in Richtung Fluss schleusen. In eine schönere Zukunft.

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