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Nietzsche und Hendrix

Der eine ist 100, der andere 30 Jahre tot – dazwischen liegt ein biblisches Leben

Die letzten Seufzer, Huldigungen sind verklungen zum 100. Todestag Nietzsches. Ist erst ein paar Tage her. Und nun kommt schon Jimi Hendrix und ist dreißig Jahre tot. Wie die Zeit vergeht, sagen die Einfallslosen, und die vielen anderen wundern sich: Wie? Zwischen Nietzsche und Hendrix liegen nur siebzig Jahre? Was sind schon siebzig Jahre? Das weiß die Bibel: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“

Hendrix’ „Little Wing“ scheint von diesem Psalm inspiriert worden zu sein, aber das kann nicht stimmen, wenn man sich den Text ankuckt, deswegen schnell zurück zu Nietzsche, denn beide Jubilare verbindet mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. „Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum, eine Strapaze, ein Exil“, schrieb Nietzsche an Köselitz im Januar 1888. Kein Jahr später brach er zusammen und ward nicht mehr gesund, sondern bald entmündigt und siechte dahin noch elf Jahre. Dagegen Hendrix’ raketenhafter Aufstieg und jähes Ende zusammen nahmen bloß vier kurze Jahre in Anspruch. (Den Hendrix betreffenden nervous breakdown hatte allerdings nicht er, sondern Bassist Billy Cox, sodass das letzte Konzert der Europa-Tournee am 14. September 1970 in Rotterdam ausfallen musste.)

Ein anderer Zusammenhang berührt gleichermaßen Technik- wie Mediengeschichte. Man muss sich das vorstellen: Während Grammophon und Phonograph noch Sensationen, quasi gerade erfunden sind, als Nietzsche 1900 umnachtet stirbt, revolutioniert Hendrix innerhalb kürzester Zeit und keine siebzig Jahre später den Sound der ohne Elektrizität gar nicht denkbaren Rockmusik und insbesondere den der Stromgitarre, ohne dass er je Noten lesen konnte.

Um zwei Uhr morgens an seinem Todestag, dem 18. September 1970, besucht Hendrix Leute, die laut Aussage seiner Freundin Monika Dannemann „not his friends“ waren. „Hendrix apparently smoked some grass there“, heißt es in einer Zusammenfassung seiner letzten Stunden, und Nietzsche wusste, wovon die Rede war: „Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“ Aber – und das ist eine der vielen Fragen, die für immer unbeantwortet bleiben werden und deswegen bestens geeignet sind, als Grundlage diverser Verschwörungstheorien zu dienen – warum nur schluckte Hendrix gleich neun Schlaftabletten Vesperax, wenn die empfohlene Dosis eine halbe ist und Hendrix selbst normalerweise zwei nahm? Oder nahm er sie gar nicht? CIA? FBI? Hatten beide Organisationen ihr Finger im Spiel?

Falls es aber gegen jede Erfahrung doch einen Ort gibt, wo die beiden sich seit 1970 ff. ab und zu über den Weg laufen (Nietzsche verständlicherweise kleinlaut und in sich gekehrt, da er offenbar etwas voreilig Gott für tot erklärt hatte), dann werden sie einander aller Wahrscheinlichkeit nach kaum etwas zu sagen haben, obwohl es vielleicht eine Möglichkeit der Kommunikation zwischen den beiden gäbe, auf die nur bis jetzt niemand gekommen ist: Hendrix setzt sich (ja, ja, meinetwegen auf eine Wolke), nimmt beiläufig seine Gitarre, spielt und singt genauso beiläufig „Angel“, und nachher murmelt Nietzsche: „Yeah, boy, as I said: Ich weiß keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen –“. Und dann nimmt Hendrix die Axt und spielt „Manic Depression“ . . . War ja nur so ein Gedanke.

DIETRICH ZUR NEDDEN

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