: Fall Mathildenstraße: Schlamperei im Amt
■ Gesundheitsamt sieht sich unschuldig an der Fast-Explosion in der Mathildenstraße / Der „Hilfsbedürftige“ wochenlang keine Hilfe / Jetzt soll er in die Psychiatrie
„Wir haben keinen Fehler gemacht.“ Mit diesen Worten schloss der Leiter des Gesundheitsamtes, Jochen Zenker, gestern die Prüfungen zum „Fall Mathildenstraße“ ab. Das von 16 Parteien bewohnte Mietshaus wäre vor acht Tagen fast in die Luft geflogen, nachdem ein psychisch Kranker die Gasleitung in seiner Wohnung manipuliert hatte. Die Situation wurde knapp entschärft, nachdem ein Hausbewohner wegen Gasgeruchs Feuerwehr und Polizei alarmierte.
Geschockte Nachbar-Innen werfen dem sozialpsychiatrischen Dienst (SPsD) nun Versagen vor. Die Kriseneinrichtung habe dem offensichtlich psychisch Kranken nicht geholfen – und die Warnungen insbesondere von Frauen, die der Kranke laut beschimpft, mit Lärm drangsaliert und bedroht hatte, nicht ernst genommen.
Ganz aus der Welt ist der böse Vorwurf der AnwohnerInnen auch nach der „fehlerfrei“-Eigendiagnose des Gesundheitsamtes nicht. Denn tatsächlich wurde dem 33-jährigen Mann, der jetzt aus der Untersuchungshaft in die Psychiatrie verlegt werden soll, bislang nicht erkennbar geholfen. „An der seelischen Erkrankung und der Hilfsbedürftigkeit von Herrn L. bestand kein Zweifel“, bestätigt zwar das Gesundheitsamt selbst. Aber man sei ja tätig geworden. Der zuständige Mitarbeiter des SPsD, ein Krankenpfleger, habe – nach Rücksprache mit einer Fachärztin – Antrag auf Betreuung des Kranken bei Gericht gestellt. Klartext: Ein amtlicher Betreuer sollte sich künftig um alle Angelegenheiten des Kranken kümmern. Doch eine Entscheidung über diesen Antrag vom 18. August gibt es bis heute nicht.
„Wenn wir einen solchen Antrag wirklich schnell entscheiden sollen, dann brauchen wir ein ärztliches Gutachten“, sagt die Sprecherin des Bremer Amtsgerichts, Ellen Best. Dergleichen liege bis heute nicht vor. Zenker äußert sich dazu so: Es habe zwar einen Termin zur ärztlichen Begutachtung des seelisch Kranken am 5. September gegeben. Dort war der Kranke aber nicht, daraufhin wurde der Termin verschoben. Auf den 12. September. Am 11. September hatten die Gasexperten die im wahrsten Sinne des Wortes mittlerweile höchst explosive Lage vor Ort schon entschärft. Es war ihr zweiter Großeinsatz in vier Wochen. Denn auch der Kranke selbst hatte die swb AG zwei Mal bestellt – wegen Gasgeruchs. Nachbarn kolportieren, dass ein Experte danach gewarnt habe, dass hier „noch etwas geschehen könnte“, so Anwohner Wolfgang Rumpf. Auch eine frühere direkte Nachbarin gab gegenüber der taz an, sie habe sich von unappetitlichen „Liebesbriefen“ des Kranken – „Ich bin dein Schicksal, wehre dich nicht“ – bedroht gefühlt. „Deswegen bin ich ausgezogen“. Zuvor habe sie mehrfach Rat beim SPD gesucht – „weil ich Angst hatte, der Mann rastet aus“. Sie habe gewollt, „dass wenn was passiert, niemand sagen kann, sie hätten nichts gewusst“, so die 36-Jährige. Nachträglich klingt es wie eine Prophezeiung.
Der Leiter des Gesundheitsamtes weiß davon nichts. Er kennt nur die Klagen der jetzigen Nachbarin, die von sich selbst sagt: „Ich musste eine Hürde überspringen, um zum ersten Mal 110 zu wählen.“ Sie könne nicht verstehen, wie ein amtlicher Krankenpfleger, „um Eskalation zu vermeiden“, den Kranken alleine lasse – und das ganze Haus weiter mit ihm zu tun haben müsse.
In der Stellungnahme des Gesundheitsamtes heißt es: „Die Einschätzung von Fremd- und Eigengefährdung gehört zu den schwierigsten Aufgaben in der Psychiatrie. Es bleibt immer ein Restrisiko in der Abwägung von Patientenrechten ... und denen ihrer Umgebung.“ Es habe keinen Anlass gegeben, den Kranken zwangseinzuweisen. ede
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