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Keine Belästigung durch Armut, bitte!?

■ Trostloses Panorama der Böswilligkeiten: Andreas Kriegenburg inszeniert zur Spielzeiteröffnung des Thalia-Theaters Maxim Gorkis „Nachtasyl“

Es war ursprünglich als Gegenentwurf zur bis dato vorherrschenden Bühnenbesetzung gedacht: Maxim Gorkis Drama Nachtasyl, das, 1902 in Moskau uraufgeführt, Diebe, Trinker und Prostituierte zu den alleinigen Protagonisten machte und so eine Gegenwelt erschuf – bzw. die Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft zeigte: Auf engstem, dumpfem Raum leben die Nachtasyl-Bewohner dahin und beobachten lakonisch Wut, Träumen und Sterben der anderen: Eine geschlossene Gesellschaft ist es, die Gorki im Nachtasyl porträtiert hat, einstmals als Anklage gedacht und von Kritikern als „Aufschrei des geknechteten Russland“ gedeutet.

Inzwischen scheint die Welt neu geordnet, wähnt sich Russland von Diktatoren befreit, während der Westen vor sich hin globalisiert – und es stellt sich die Frage, warum der neue Thalia-Intendant Ulrich Khuon die Saison mit einem so perspektivlosen Stück eröffnet. „Das habe ich mich auch gefragt“, bestätigt Andreas Kriegenburg, 1963 in Magdeburg geborener Regisseur, der für diese Inszenierung vom Wiener Burgtheater nach Hamburg kam. Denn warum den Stoff vergangener Ären auf die Bühne bringen, wenn es um die Kritik an aktuellen Missständen geht?

Vielleicht aber erschließen sich die Motive für die Wahl des Stü-ckes aus dem Zusammenhang: Dem Gorki-Stück folgt, zwei Tage später, die Republik Vineta, von Moritz Rinke, einem der wichtigsten westdeutschen Nachwuchsautoren. Fast kontrapunktisch werden so die beiden Einstandsstücke gegenübergestellt – und vielleicht besteht kein so großer Unterschied zwischen dem (äußeren und inneren) Elend der Nachtasyl-Bewohner und dem („bloß“ inneren) der Vineta-Planer. Vielleicht münden beide Stücke auch letztlich in dasselbe, in die Frage nach dem Nutzen der Definition von Wahrheit und Lüge und nach der Tragfähigkeit von Utopien: Ein besseres Leben erträumen sich die Bewohner des Nachtasyls; Armut ist das zentrale Thema – und die fragile wechselseitige Toleranz, die einzig beruht auf geteiltem Leid.

„Ich habe die Bösartigkeit von Gorkis Protagonisten von Anfang an als Belästigung empfunden“, bekennt Kriegenburg, „und als geradezu obszön unseren Versuch, materielle Armut auf die Bühne zu bringen. Denn wie sollen wir das machen, ohne zynisch zu wirken? Sollen sich gut bezahlte Schauspieler wirklich zwei Wochen lang zwischen die Obdachlosen legen, um sie dann auf der Bühne möglichst authentisch nachzuahmen? Welch ein Geheuchel!“

Was also tun mit einem Stück, das so wenige Perspektiven bietet? Denn der Pilger Luka, der der Sterbenden das paradiesische Jenseits und dem Alkoholiker eine kostenlose Entziehungskur verspricht, bringt auch keine Linderung. Ob er lügt, ob er Edelmensch oder Super-Manipulierer ist, kümmert dabei eher seine Mitbewohner als ihn selbst. Regisseur Andreas Kriegenburg will jedenfalls nicht manipulieren und hat eine andere Lösung gefunden: „Uns geht es darum, innere Verarmung darzustellen, Menschen, die durch permanente Selbstdarstellung verarmen“ – eine Gratwanderung.

„Es gab während der Proben Momente, in denen es richtig gemütlich wurde, und dann dachte ich plötzlich, jetzt machen wir hier nur noch Literatur“, bekennt Kriegenburg. „Und davon mussten wir uns freimachen, die Figuren in ihrer Böswilligkeit konfrontieren, weil auch wir in einer böswilligen Welt leben. Letztlich beschreiben wir die böswilligen Konstanten zwischen Gorkis und unserer Welt.“

Petra Schellen

Premiere: Donnerstag, 20 Uhr, Thalia-Theater

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