: Vertreter unbekannter Interessen
Vom 1. bis zum 10. Oktober wählt das digitale Volk der eingeschriebenen Icann-Netzbürger fünf Mitglieder einer Regierung, die gar keine Regierung sein will. In Europa kandidieren drei Deutsche: ein Mann von der Telekom, ein Hacker und eine Politologin
von CHRISTIAN AHLERT
Die Kandidaten stehen fest, vom 1. bis zum 10. Oktober soll die Wahl von sieben Direktoren der „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“ nun tatsächlich stattfinden. Kosmopolitische Weltdemokratie fördere der Cyberspace, behaupten Politiker und Apologeten der vernetzten Zukunft immer wieder. Ist das so? Die Icann-Wahlen zeigen zwar, dass das Internet zum global-demokratischen Raum taugt, aber auch, dass seine Bewohner in realweltlicher, nationaler Politik- und Kommunikationskultur tief verwurzelt sind.
Die Icann macht ihnen den Schritt in den digitalen Internationalismus nicht eben leicht. Selbst Politologen rätseln über den tieferen Sinn des überaus komplizierten Wahlverfahrens, dessen Regeln unter members.icann.org/rules.html einzusehen sind – übrigens auch für jene erdrückende Mehrheit von Netzusern, die sich nicht in die Wahlliste der Icann eingetragen haben. Die anderen immerhin, die „At-Large-Members“, haben ihre Kandidaten gekürt: Zwei Deutsche für Europa – einen Hacker und eine Politologin. In Nordamerika eine Netzaktivistin, einen Icann-Kritiker und einen Juristen. In Südamerika zwei Brasilianer, die zur dortigen Wirtschaftselite gehören. Für Asien einen Chinesen, der für die Regierung arbeitet und, wenn er gewählt wird, auch Australien und Israel repräsentieren soll. In Afrika einen weißen Südafrikaner, der seit langem zur Internet-Community gehört.
Zwar hatten sich viele der Kandidaten bemüht, über Ländergrenzen hinweg für sich zu werben, indem sie sich unter anderem auf der Icann-Europe- Mailingliste, die vom deutschen Förderverein Informationstechnologie und Gesellschaft e. V. (Fitug, www.fitug.de) ins Leben gerufen worden war, auch in Englisch zu Wort meldeten. Doch der utopische Diskurs kommt arg zähflüssig in Gang, und mit diesem Phänomen haben nicht nur die Europäer zu kämpfen. Die taiwanische Kandidatin Feng Ling Chiu stellte sich in ihrem Internetauftritt unter mrok.net/icann in Englisch, modernem und traditionellem Chinesisch vor, damit auch Festlandchinesen ihre Kandidatur unterstützen. Doch gegen die Dominanz der Volksrepublik China konnte sie nichts ausrichten. Unterstützt durch den chinesischen Staat, hatte das China Network Information Center die chinesischen Internetnutzer schon Mitte Juli aufgefordert, sich als At-Large-Mitglieder registrieren zu lassen, und dafür sogar Geschenke verteilt. Hung Jie Li, der ein staatliches IT-Unternehmen in Peking leitet, gewann dann auch mit erheblichem Abstand die asiatische Kandidatur. Dass er die freie und egalitäre Netzphilosophie nicht repräsentiert, sagt er ganz offen in seiner Kandidatenvorstellung: „Ich will mit anderen Internetführern im Wettbewerb stehen, um das Internet in die richtige Richtung zu führen.“ Was Herr Li für die richtige Richtung hält, sagt er nicht, und die Frage, ob er in Verbindung zu einer Regierung stehe oder eine offizielle Position innehabe, hat er bis heute nicht beantwortet.
Nun wollte die Icann jeweils einen Kandidaten länderübergreifend für die gesamte Wahlregion nominieren. Mit ihren eigenen Vorschlägen hatte sie aber wenig Erfolg. Undemokratisch, intransparent und dilettantisch sei die Wahl insgesamt organisiert, wurde immer wieder kritisiert, und die von Icann Nominierten hatten einen schweren Stand. Die Internetnutzer entschieden sich lieber für ihre eigenen Kandidaten aus ihrem jeweils eigenen Land. Die Staaten mit dem größten Anteil an Netzbürgern werden daher mit großer Wahrscheinlichkeit nun auch ihre Vertreter ins Icann-Direktorium entsenden. Auf der Wahlliste für Europa sind das der Sprecher des Chaos Computer Clubs, Andy Müller-Maguhn, und die Berliner Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann.
Schlecht vertreten wäre damit Europa wohl nicht. Problematisch bleibt dennoch einiges. Viele der selbst ernannten Kandidaten haben noch nicht hinreichend erklärt, wie sie finanziert werden wollen. Einige kandidieren zudem gar nicht für ihre Region, sondern ausdrücklich für ihr Land, und stilisieren den digitalen Wahlkampf zu einem nationalistischen Wettbewerb.
Und manche schließlich, die zwar ausreichend technisches Wissen mitbringen, kennen sich in der spezifischen Icann-Kultur und den dort herrschenden codes of conduct nicht aus. Wenn sie wirksam die Interessen ihrer Region vertreten wollen, stehen sie vor der Aufgabe, das amerikanische Juristenenglisch, das in der Icann vorherrscht, nicht nur zu verstehen, sondern auch noch für die Wählerschaft zu übersetzen.
Besser haben es da die Amerikaner: Mit Larry Lessig wurde einer der prominentesten Kritiker der Icann und Verfechter eines freien Cyberspace nominiert. Mit Harvard-Law-School-Englisch wird er auch keine Probleme haben. Bis vor kurzem war er dort Professor. Nur eine Frage hat auch Larry Lessig bisher so wenig wie irgendein anderer Direktoriumskandidat schlüssig beantworten können: Was eigentlich sind die Interessen der Nutzer?
Nur Direktoren, die diese Interessen kennen, können sie auch vertreten. Den einen, nahe liegenden Weg, der zur Konstituierung eines erkennbaren Wahlkörpers der Icann beitragen könnte, hat die selbst ernannte Internetverwaltung erst jetzt eröffnet, nachdem das Ringen um die Kandidaten schon vorbei ist und der Wahlkampf selbst vor der Tür steht: In Webforen, die Icann eingerichtet hat, dürfen die At-Large-Members Fragen stellen.
Politiker antworten, anders als im Fernsehen drängt es sie hier aber nicht sonderlich dazu. Zumindest nicht in Europa. In der ersten Woche hatten sich hier nur Alf Hansen, Jeanette Hofmann und Olivier Muron mit ihren Wählern auseinander gesetzt und dabei verraten, was sie denn nun als Icann-Direktoren machen wollen. Inzwischen sind María Livanos Cattaui und Andy Müller-Maguhn dazugestoßen.
Einzig der von Icann nominierte Winfried Schüller bleibt dem Werbespruch seines Arbeitgebers Telekom treu: „Ruf doch mal an.“ Schüller gibt nur exklusive Chats auf seiner eigenen Wahlkampfsite zum Besten. Das lässt ihn nicht eben als idealen Vertreter des digitalen Volks erscheinen. Aber niemand weiß, ob die Mehrheit der europäischen Icann-Mitglieder nicht doch T-Online-Kunden sind und deshalb lieber einen Vertreter ihres Unternehmens wählen als den Hacker oder die Akademikerin, die es auch bis in die Kandidatenliste geschafft haben.
Offen ist der Wahlausgang in jedem Fall. Jeanette Hofmann lag bisher mit deutlichem Abstand hinter Müller-Maguhn, doch hat sie mindestens drei Vorteile auf ihrer Seite: Sie ist nicht von der Telekom abhängig, ist kein Hacker, und sie versteht etwas von Politik.christian_ahlert@harvard.edu
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