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Die real existierende Republik

„Wir sahen den Fall der Mauer im Fernsehen und lachten, ob wir uns jetzt auch mit der DDR vereinigen müssten.“

aus Lima DIANA SEILERund HILDEGARD WILLER

Keine Selbstschussanlage, keine Mauer, keine Grenzkontrolle: Die DDR betritt man durch einen breiten Bogen aus Backstein, der rot-blau-gelb angestrichen ist.

Dahinter sind die Straßen aus Sand und zwei Autos breit, doch selten passieren zwei Autos zur gleichen Zeit eine Straße. Die wenigsten Bürger der Deutschen Demokratischen Republik besitzen einen Wagen; sie bewegen sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder besteigen ein Moto-Taxi – ein Moped mit angehängter Rückbank, das den Passagier auf Wunsch und für sechzig Pfennig die Tour sogar in die Bundesrepublik Deutschland bringt.

Doch was soll oder will man als DDR-Bürger schon in der BRD?

Für die DDR-Jugendlichen jedenfalls ist die Bundesrepublik ein Stadtteil wie jeder andere. Sie zieht es eher in die Nobelviertel von Lima. Für die älteren DDR-Bürger – und das Alter beginnt hier in Peru schon bei etwa dreißig Jahren – ist das andere Deutschland ein Konkurrent aus alten Zeiten. „Wir von der Deutschen Demokratischen Republik waren die Ersten, die die Sandhügel von San Juan besiedelt haben, und zwar 13 Tage vor der Bundesrepublik Deutschland“, sagt Margarita, eine der Pionierinnen der DDR.

Margarita nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche, schiebt einen Hähnchenschenkel nach und wiegt dabei ihre Hüften im Rhythmus der Chicha-Musik. Heute feiern sie und ihre Mitbewohner den siebzehnten Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik. Wie jedes Jahr am 1. Oktober hat der Stadtteilbürgermeister eine Rede gehalten auf die Tapferkeit der Republikbewohner, wie immer wird das Fest bis in die frühen Morgenstunden dauern und wie immer erzählen sich die DDR-Bürger gegenseitig die alten Geschichten von der Gründung.

Alles begann mit dem alten Traum, einen Ort zu haben, an dem man sich niederlassen kann, an dem man seine Kinder und Enkel aufwachsen sieht. Wie viele Landflüchtlinge träumten auch Margarita, heute DDR, und Fortunato, heute BRD, diesen Traum. Ende der Siebzigerjahre waren sie beide aus dem peruanischen Hochland nach Lima gekommen. Sie lebten in Papphütten, als das Gerücht umging von einer Wohnungsbaugesellschaft, die im Süden Limas die Sanddünen erschließen wollte. Margarita und Fortunato waren zwei von fast tausend Landflüchtlingen, die zweihundert Soles, also etwa sechzig Dollar, an die Gesellschaft zahlten, um sich ihren Traum zu erfüllen.

1980 wurde die Gesellschaft unter dem Namen „Bundesrepublik Deutschland“ offiziell registriert – „weil Deutschland ein reiches Land ist und wir auf Unterstützung von der deutschen Botschaft hofften“, sagt Fortunato. Der Mann, Mitte 50, sieht nicht mehr so aus, als erhoffe er sich heute irgendetwas.

Was die Teilhaber der BRD damals nicht wussten: Die Wohnungsbaugesellschaft war ein Betrugsunternehmen. Die unbewohnten Hügel gehörten einem katholischen Waisenheim, das sein Eigentum nicht so einfach abtreten wollte. Und nicht nur das: Der Bürgermeister des angrenzenden Bezirks hatte die Bauplätze zudem mehrfach verkauft.

Da entschlossen sich die Teilhaber der Bundesrepublik Deutschland, Tatsachen zu schaffen und das Land in den sandigen Hügeln zu besetzen. „1981 nahmen wir den ersten Anlauf, aber es klappte nicht, weil zu wenige gekommen waren. 1983 waren wir besser organisiert“, sagt Fortunato. Doch ein paar Tage vor dem geplanten Termin gab es einen Skandal. „Unser Schatzmeister hatte Bestechungsgelder angenommen und wir mussten ihn ausschließen“, sagt Fortunato. Da wurde es erst einmal nichts mit der Republikgründung.

In der DDR weiß man heute besser, was damals tatsächlich im Bruderland gespielt wurde: „Das mit den Bestechungsgeldern war nur eine Ausrede, eigentlich waren es politische Gründe“, sagt die 50-jährige Margarita. Sie nämlich war dem ehemaligen Schatzmeister mit rund 150 anderen Landlosen gefolgt. Er und seine Anhänger besetzten den am weitesten – etwa zehn Minuten Fußweg – entfernten Hügel und gründeten dort ihr eigenes Viertel – die Deutsche Demokratische Republik.

„Wir waren ja eigentlich ein Teil der BRD, doch die hatte uns ausgeschlossen. So mussten wir unserer Siedlung einen anderen Namen geben“, sagt Margarita. Und da fiel den Gründungsvätern und -müttern ein, dass es noch ein anderes Deutschland gibt. Die 150 BRD-Besetzer dagegen – noch konsterniert über den Finanzskandal – gründeten erst dreizehn Tage später ihren Teil Deutschlands.

In den Anfangsjahren kämpften beide „Republiken“ mit den gleichen Problemen: Platzmangel, Hütten aus Schilfmatten, überall Unrat, Krebse, Skorpione, kein fließendes Wasser.

Die Hoffnung der Republikbewohner auf Hilfe aus „ihren“ Botschaften erwies sich als verfehlt. Die BRD-Botschaft zeigte sich knauserig: „Eine kleine Unterstützung bekamen wir, und eine Deutsche aus Lima sammelte Spenden, damit der Mütterclub seine Gemeinschaftsküche bauen konnte“, sagt Fortunato. Die DDR-Botschaft indes zeigte sich noch knauseriger: „Die speisten uns mit ein paar Propagandaheftchen ab“, sagt DDR-Gemeinderat Raúl Aza.

Doch von der mangelnden Unterstützung ihrer Namenspatrone im fernen Europa ließen sich die Bewohner beider deutscher Republiken nicht erschüttern. Nach und nach machten sie aus den wilden Ansiedlungen in den Hügeln bewohnbare Stadtteile.

Im kollektiven Gedächtnis der BRD ist 1989 das Jahr, in dem die Wasserleitungen fertig wurden. Als Touristen aus aller Welt nach Deutschland fuhren, um einen Stein aus der historischen Mauer zu reißen, freuten sich die BRDler in Lima über jeden Ziegelstein, aus dem sie ihre Häuser mauern konnten. Fortunatos Tochter Roxanna hat an das politische Ereignis so ihre eigenen Erinnerungen: „Wir sahen den Fall der Berliner Mauer im Fernsehen und lachten noch, ob wir uns jetzt auch mit der DDR vereinigen müssten.“

Die Mauer gefallen, der realsozialistische Staat Geschichte? Hier ging der Aufbau der DDR gut voran! Seit 1986 war in Peru der Linkspopulist Alan García Präsident. Es mag an dem Namen gelegen haben, jedenfalls fand García besonderen Gefallen an der DDR. „Er kam mehrere Male hierher und hielt Wahlreden“, sagt Gemeinderat Raúl Aza, „aber er half uns auch, dass wir Elektrizität und Wasser bekamen und unsere Schule gebaut werden konnte.“ Viele DDRler traten daraufhin in Garcías Partei, die Apra, ein. Nun war man auch hier irgendwie sozialistisch.

Mit dem Fall des Präsidenten García im Jahr 1990 sank auch die Beliebtheit der DDR auf Regierungsseite. DDR-Gemeinderat Aza ist davon überzeugt, dass das Viertel wegen seiner linken Ausrichtung dem heutigen Präsident Alberto Fujimori ein Dorn im Auge ist. „Als ich den Besuch von Präsident Fujimori im Nachbarviertel nutzte, um ihn zu bitten, bei uns einen Polizeiposten einzurichten, hat er nur die Stirn gerunzelt und gesagt, wir müssten den Namen unserer Siedlung ändern, weil dieses Land gar nicht mehr existiert.“

Die Schulbehörde ist schon mal seinem Wunsch gefolgt: Sie hat das „Demokratische“ aus dem Namen der örtlichen Schule gestrichen – diese heißt jetzt nur noch „Deutsche Republik“. Margarita, Lehrerin und einzige Frau im Gemeinderat, findet diese Geschichtsklitterung problematisch. „Wir haben uns an unseren Namen gewöhnt, überall kennt man uns darunter!“

Sollte die Politik der Schulbehörde Schule machen, werden Briefträger und Zulieferer im Süden Limas in Zukunft noch mehr Schwierigkeiten haben, wenn sie eine Adresse in „Deutschland“ suchen müssen.

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