Die neuen Nichtarbeitslosen

Sie sind Architekten, Lektoren, Taxifahrer. Sie arbeiten viel und verdienen wenig. Immer mehr arme Freiberufler werfen eine neue soziale Frage auf

von BARBARA DRIBBUSCH

Zugegeben, Mitleid mit Ärzten zu haben, ist nicht leicht. Schließlich bewegen sich deren Einkommen meist noch in luftigen Höhen. Doch wer mit Günter Sillstedt* spricht, ahnt, dass es auch anders sein kann. „Ich arbeite mit Verlust“, sagt Sillstedt, „und eine Alternative gibt es nicht.“

Sillstedt ist Arzt für Röntgenmedizin in einem Berliner Arbeiterbezirk und macht im Moment nur Miese. Seine Einnahmen haben sich binnen fünf Jahren halbiert. Denn viele Radiologen eröffneten in Berlin neue Praxen. Die Folge: Der Punktwert, also der Honorarsatz der Krankenkassen, sackte in Berlin um die Hälfte ab. Die hohen Praxiskosten aber blieben. Der 56-Jährige lebt gegenwärtig „nur noch vom Überziehungskredit der Bank“.

Sillstedt gehört zu den neuen Nicht-arbeitslosen, also zu jenen Freiberuflern, Kleinunternehmern und Honorarkräften, die von ihrem Einkommen zwar kaum oder gar nicht mehr leben können, aber auch keine Alternative haben zu ihrem Job.

„Diese Gruppe der neuen armen Selbstständigen wächst“, sagt der Industriesoziologe Günter Voß von der Technischen Universität Chemnitz. Diesen Einzelkämpfern nützt es nichts, dass die Arbeitslosenzahlen sinken. Durch die Flexibilisierung der Märkte drängen im Gegenteil immer mehr Konkurrenten in Beschäftigungsfelder, deren Auftragslage aber nicht besser wird. Das drückt auf die Einkommen und aufs Gemüt – und betrifft zunehmend auch die Mittelschichten.

Sillstedt muss jetzt sein Einfamilienhaus verkaufen, um die aufgelaufenen Bankschulden für die teuren Röntgengeräte abzahlen zu können. Jetzt will der Arzt vor Gericht gegen die niedrigen Punktwerte für die Berliner Radiologen klagen, die auch eine Folge der Gesundheitsreform sind. „Laut Sozialgesetzbuch hat der Kassenarzt doch Anspruch auf eine angemessene Honorierung“, ist er überzeugt.

Während die niedergelassenen Ärzte noch fassungslos den Verlust alter Sicherheiten beklagen, waren Architekten der sinkenden Baunachfrage und wachsenden Konkurrenz schon immer direkter ausgeliefert. Doch kürzlich schlug die Bundesarchitektenkammer noch einmal Alarm: „Die Absolventenzahlen übersteigen den Bedarf an Architekten fast um das Doppelte“ warnte die Kammer. Die Zahl der Nachwuchsarchitekten stieg binnen neun Jahren um 40 Prozent, das Bauvolumen aber ging zurück. Viele selbstständige Architekten halten sich nur noch mühsam mit Kleinaufträgen über Wasser.

Nicht wenige Architekten unterbieten inzwischen sogar die geltende Honorarordnung, berichtet Andreas Rochholl, Sprecher der Architektenkammer Berlin. Dort hat sich die Zahl der so genannten Härtefallanträge binnen sieben Jahren verfünffacht. Jeder 12. Architekt in der Kammer stellt inzwischen einen solchen Antrag auf Erlass oder Stundung der Mitgliedsbeiträge, weil sein Bruttoeinkommen nicht mehr 30.000 Mark im Jahr erreicht.

Den Risikoexistenzen unter den Selbstständigen hilft es wenig, dass die Mehrzahl der KollegInnen immer noch gut verdient. „Die Spreizung der Einkommen ist groß“, erklärt Voß. Nach noch unveröffentlichten Zahlen aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes verdient das ärmste Zehntel der Selbstständigen-Haushalte nur 2,6 Prozent der Gesamtsumme aller Selbstständigen-Einkommen. Das reichste Zehntel hingegen kassiert ein sattes Viertel des gesamten Kuchens. Die Unterschiede in den Einkommen der Selbstständigen sind größer als in der Gesamtbevölkerung mit Beamten, Angestellten und RentnerInnen.

Die Folgen sind abzulesen: Jeder 14. Freiberufler – darunter fallen eben auch Autoren, Ärzte und Architekten – kommt auf monatliche Einkünfte von unter 1.250 Mark, so ergibt sich aus der Einkommenssteuerstatistik. Bei den gewerblichen Unternehmern – also beispielsweise Handwerkern oder Taxifahrern – erzielt jeder Achte monatliche Einkünfte von unter 1.250 Mark. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass man unter Einkünften die Einnahmen minus Betriebsausgaben versteht: Mit hohen „Betriebsausgaben“ lassen sich die rechnerischen „Einkünfte“ kräftig drücken.

Wer als Freiberufler oder Kleinunternehmer am Existenzminimum herumkrebst, kann aber auf das Sozialsystem kaum hoffen. „Arbeitslosengeld bekommen die Leute nicht. Und eine andere berufliche Möglichkeit haben sie oft auch nicht“, gibt Günter Voß zu bedenken. Außerdem bleiben Schulden, wenn die Praxis oder das Büro geschlossen werden muss. „Für ein solches Leben braucht man viel Stressresistenz“, meint der Industriesoziologe.

Die neue politische Propaganda für Unternehmer und Freiberufler, vor allem in der Internet-Branche, hat für Voß daher auch wenig mit der Wirklichkeit zu tun. „Da wird viel hoch geblasen aus ideologischen Gründen.“

*Name von der Redaktion geändert