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„Wende“ in Mexiko – nur wohin?

Der kommende mexikanische Präsident auf Deutschlandbesuch – sein Programm reicht von Privatisierung bis zu umstrittener Armutsbekämpfung

MEXIKO STADT taz ■ Der künftige Präsident Mexikos habe „keine Ahnung, kein Team und keine Kontrolle über den Kongress“, urteilte Starökonom Rüdiger Dornbusch auf der IWF-Tagung in Prag barsch. Staatschef Vicente Fox schoss scharf zurück: Die Kritik des Herrn Dornbusch sei geradezu „schmeichelhaft“, da dieser bekanntlich ein Berater des ehemaligen Präsidenten Salinas – mittlerweile einer der bestgehassten Männer der Republik – gewesen sei. Auch etwaigen IWF- oder OECD-„Empfehlungen“ zu einer beschleunigten Liberalisierung, betonte der erzürnte Christdemokrat bei der Gelegenheit, werde man sich keinesfalls unterordnen.

Sein Vertreter in Prag, der ehemalige Weltbankökonom Luis Ernesto Derbez, beruhigte unterdessen die Gemüter. Wirtschaftspolitisch setze der mexikanische Wendepräsident, der gestern in Berlin eingetroffen ist, selbstverständlich auf „Kontinuität“. Also zunächst business as usual: Nach außen soll der freie Handel mit aller Welt ausgebaut werden, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) wird nicht etwa – wie Gewerkschaften und kritische Experten fordern – neu verhandelt, sondern noch „vertieft“. In ein paar Jahrzehnten werde, so die ehrgeizige Vision des künftigen Regierungschefs, gar eine „totale Integration“ mit den Handelspartnern USA und Kanada erreicht sein.

Nach innen solle der Staat immer weniger ausgeben und Private, besonders der angeschlagene Mittelstand, dafür umso mehr investieren. Aber auch die Löhne, die seit fast zwanzig Jahren kontinuierlich an Kaufkraft verloren haben, sollen wieder steigen dürfen. Allerdings nur „im Rahmen der Produktivität“. Wie eine von der Tageszeitung Reforma in Auftrag gegebene Studie belegt, hinkt die Lohn- der Produktivitätsentwicklung allerdings schon seit 1994 um mehr als ein Drittel hinterher.

Angestrebt ist schließlich, so Fox, die „totale Öffnung all unserer Wirtschaftssektoren“. Gemeint sind vor allem zwei strategische Bereiche, die bisher verfassungsrechtlich dem Staat vorbehalten sind und deren Privatisierung in Mexiko seit Jahren höchst kontrovers diskutiert wird: die Erdölförderung und die Stromerzeugung. Hier wird der kommende Präsident jedoch langsamer vorgehen müssen als von ihm vielleicht gewünscht: Im neuen Parlament hat keine der drei großen Parteien – die konservative Fox-Partei PAN, die ehemalige Staatspartei PRI und die linkssozialdemokratische PRD – eine Mehrheit.

So muss die neue Regierungsmannschaft auch ehemalige Gegner von ihren Vorhaben überzeugen. Zum Beispiel bei der Armutsbekämpfung, erklärtermaßen „die allerhöchste Priorität“ des neuen Präsidenten. Hinter den allseits gelobten Makro-Daten – ein Wirtschaftswachstum von 7,8 Prozent im ersten Halbjahr, Inflation unter 10 Prozent – verbirgt sich eine verheerende Sozialbilanz der scheidenden Regierung. So ist noch unter Präsident Ernesto Zedillo die Zahl der „extrem Armen“ von 24 auf 27 Millionen angewachsen. 75 der knapp 100 Millionen MexikanerInnen leben an oder unter der statistischen Armutsgrenze.

Nach Fox soll der Massenarmut nun jedoch nicht mehr wie bisher über Sozialhilfeprogramme bekämpft werden, sondern über den Markt. Zwar würden Arme auch weiterhin mit dem Nötigsten zum Leben versorgt, versichert Julio Boltvinik, angesehener Sozialexperte und frisch gebackener Fox-Berater. Darüber hinaus aber wolle man sie mithilfe von Mikrokrediten einer „Sozialbank“, gezielter Weiterbildung und technischer Beratung behutsam in eine „neue Selbständigkeit“ überführen. Vor drei Jahren hatte Vicente Fox zusammen mit sozialdemokratischen Politikern wie dem chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos und linksliberalen Intellektuellen noch eine Streitschrift zur „Überwindung des Neoliberalismus“ und für einen lateinamerikanischen „dritten Weg“ unterschrieben. Was seine Vision einer „Wirtschaft mit menschlichem Antlitz“ vom marktliberalen Mainstream grundsätzlich unterscheidet, vermag er bis heute nicht so recht zu erläutern.

ANNE HUFFSCHMID

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