: Armut ist auch ein deutsches Problem
DGB und Paritätischer Wohlfahrtsverband stellen Armutsstudie vor. Auch Erwerbstätige betroffen
BERLIN taz ■ Jeder elfte Bundesbürger ist arm. Zu diesem Ergebnis kommt der neue Armutsbericht von Deutschem Gewerkschaftsbund und Paritätischem Wohlfahrtsverband. Demnach müssen 9,1 Prozent der Bevölkerung mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens auskommen. Vermögensbestände wurden bei der Bewertung nicht berücksichtigt.
„Die Zahl der Einkommensarmen ist seit 1985 relativ konstant geblieben“, resümierte der Darmstädter Sozialwissenschaftler und Mitautor des Berichts, Walter Hanesch, gestern in Berlin. „Nach über zehnjähriger öffentlicher Diskussion um Armut in Deutschland darf dies seinerseits getrost als politisches Armutszeugnis betrachtet werden“, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Er forderte einen wirkungsvolleren Lastenausgleich, der kinderreiche Familien vor Armut schütze.
Kinderreiche Familien und allein Erziehende sind nach Einschätzung von Walter Hanesch besonders stark von Einkommensarmut betroffen. In den neuen Bundesländern müsse jeder dritte allein Erziehende mit seinem Kind von weniger als 1.300 Mark leben. Auch Migranten seien überdurchschnittlich arm. „Die Quoten liegen hier zwei- bis dreimal höher als bei der Gesamtbevölkerung“, sagte Hanesch.
Am härtesten trifft die Armut Arbeitslose. Fast jeder dritte Haushalt mit mindestens einem Arbeitslosen habe weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung.
Doch auch ein Job schützt nicht vor Armut. „Das Problem der Armut trotz Erwerbstätigkeit wird in Deutschland unterschätzt“, kritisierte Walter Hanesch. Die Armutsquote der Berufstätigen unterscheide sich nur noch geringfügig von der Armutsquote der gesamten Bevölkerung. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer machte dafür auch die untertariflichen Lohnzahlungen verantwortlich. Sie forderte ein Verbandsklagerecht gegenüber Unternehmen, die keinen Tariflohn zahlen. „Der einzelne Betroffene getraut sich leider oft nicht, vor Gericht zu gehen“, sagte Engelen-Kefer.
Walter Hanesch verwies darauf, dass trotz der konstanten Quote nur wenige Betroffene dauerhaft in Armut leben. Trotzdem dürfe man das Armutsproblem nicht kleinreden. Das unterstrich auch Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. „Drei Jahre in Armut zu leben ist für ein Kind eine lange Zeit.“ Zur Verbesserung der Situation schlug Schneider vor, einen Kindergeldzuschlag für sozial schwache Familien einzuführen. Dieser solle den Betroffenen den Gang zum Sozialamt ersparen.
Im europäischen Vergleich bewegt sich das Armutsrisiko in der Bundesrepublik auf mittlerem Niveau. Stärker betroffen sind dem Bericht zufolge die südeuropäischen und angelsächsischen Länder. Die geringste Armut gibt es in Skandinavien.
RALF GEISSLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen