: Osterweiterung des Horizonts
Polen: Sozialschmarotzer, illegale Grenzübertreter, Bauern ohne Ende? Oder vielleicht doch ganz anders? Über die Besichtigung der Fakten
von UWE RADA
Vier Tage hat es gedauert, bis Jan Menzer mit seiner Frage herauskam. Vier Tage, an denen er eher zurückhaltend den Vorträgen von ostpolnischen Landwirten oder Vertretern der ukrainischen und weißrussischen Minderheiten zuhörte. Am vierten Tag aber kann Jan Melzer sich nicht mehr zurückhalten. „Wie gehen Sie denn bei Ihnen in Polen mit den Sozialschmarotzern um?“
Andrzej Korąży, der stellvertretende Bürgermeister des an der weißrussischen und ukrainischen Grenze gelegenen Städtchens Włodawa, antwortet: „Von Sozialhilfe kann eine Familie in Polen kaum leben. Viele sind deshalb gezwungen, im Ausland illegal zu arbeiten.“ Jan Melzer horcht auf. Also doch! Aber Korąży ist mit seiner Rede noch nicht am Ende. „Gerade deswegen“, sagt er, „ist es unser Ziel, diesen Familien wieder eine Perspektive zu geben.“
Wlodawa: keine illegalen Märkte
Włodawa ist die östlichste Stadt Polens und wird einmal, wenn Polen der EU beigetreten ist, an der Außengrenze des neuen Europa liegen. Jan Menzer ist Mitarbeiter des CDU-Bundestagsabgeordneten Karl-Heinz Hornhues und Teilnehmer einer Studienreise, die das Deutsch-Polnische-Jugendwerk für „junge deutsche Politiker“ organisiert hat. Titel der Fahrt: „Die künftige Ostgrenze der Europäischen Union“.
Klaus-Peter Hesse und Stephanie Günther tuscheln. „Hast du gehört, was der Menzer gesagt hat?“, fragt Mario Käse, SPD-Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft. Stephanie Günther, eine grüne Landtagsabgeordnete aus Baden-Württemberg, hat es gehört. Verstanden hat sie es nicht. Wie die übrigen Teilnehmer der Studienreise, darunter Abgeordnete auch aus Bremen und Thüringen, hat sie in den vergangenen Tagen zwischen den Bedenken der Deutschen und den Sorgen der Polen zu unterscheiden gelernt. Und eine neue Einsicht hinzugewonnen. Auch Polen hat seinen Osten und seine östlichen Nachbarn. Und die sind, so hat es der Publizist Adam Krzemiński den deutschen Jungpolitikern gleich zu Beginn ihrer Reise ans Herz gelegt, für die Polen genauso wichtig wie Polen für die Deutschen. Bei Stephanie Günther ist die Botschaft, einmal einen europäischen Perspektivenwechsel zu wagen, angekommen. Auch wenn sie selbst Bedenken trägt, etwa was die Zunahme von Transportwegen und deren ökologische Folgekosten im Falle eines EU-Beitritts Polens betrifft.
Zweihundert Kilometer südlich von Włodawa liegt Przemyśl, die größte Grenzstadt Polens zur Ukraine. Voller Erwartung gehen der Hamburger CDU-Abgeordnete Klaus Peter Hesse und sein Thüringer PDS-Kollege Steffen Dittes auf den Bazar unweit des Bahnhofs. Von diesem Bazar, vor ein paar Jahren noch der größte der polnischen „Russenmärkte“, hatten die meisten Teilnehmer schon gehört. Doch die Hoffnung, auf geschmuggelte Zigaretten, Wodka oder illegal gepresste CDs zu treffen, wird enttäuscht. Im Angebot ist vielmehr Alltägliches – Klamotten, Lebensmittel, vor allem frisches Obst und Gemüse. „Das sind die Waren, die wir paradoxerweise in die Ukraine exportieren, obwohl dort die Kornkammer Europas ist“, wird später Wiesław Gryn, ein Landwirt aus Rogów, erklären. „Die ukrainischen Felder liegen nämlich brach, und der Kauf von Obst und Gemüse gehört für viele Ukrainer in der Grenzregion zum Alltag.“ Das Wohlstandsgefälle, das die Abgeordneten Hesse und Dittes von der deutschen „Osterweiterung“ kennen, findet weiter im Osten seine Fortsetzung.
Medyka: wenig illegale Migranten
Sechs Kilometer von Przemyśl enfernt liegt Medyka, der Grenzübergang zur Ukraine. Von hier aus sind es nur noch 79 Kilometer bis nach Lwiw, dem ehemaligen Lemberg. Seit der Einführung des neuen polnischen Passgesetzes, ist es in Medyka etwas ruhiger geworden. „Zwar brauchen die Ukrainer bei der Einreise nach Polen noch kein Visum, dafür aber 100 Dollar“, erklärt Piotr Dróżdż, der Leiter des „Straż graniczny“, des polnischen Grenzschutzes. Was für die Polen als finanzieller Nachweis für einen touristischen Aufenthalt gedacht war, ist für die Ukrainer kein Hindernis. Klarsichthüllen mit einem Hundertdollarschein gehören inzwischen zur Grundausstattung der meisten Reisenden, viele tauschen sie auch untereinander aus. Doch es sind nicht mehr die Großhändler, die das Bild auf dem nahe dem Grenzübergang gelegenen Bazar bestimmen, sondern die „Mrówki“, die so genannten „Ameisen“. Bis zu zehn Mal am Tag passieren sie den Übergang, um sich mit dem Verkauf von kleinen Mengen an Alkohol oder Zigaretten am Leben zu halten.
Der Gesprächstermin mit Dróżdż ist die Stunde der CDU-Politiker. „Viele in Deutschland fürchten sich vor illegaler Migration“, sagt Klaus-Peter Hesse und will wissen, wie Dróżdż die Grenze sichern will. Ruhig, sachlich und nicht ohne Humor antwortet der Leiter des Grenzschutzes, erzählt von der „Systema“, der faktisch nicht vorhandenen ukrainischen Grenzsicherung und berichtet, dass die polnische Grenze im Grunde der erste Kontrollpunkt ist, auf den jene treffen, die sich aus Asien auf den Weg nach Europa machen.
Dass es Schmuggel und illegale Migration, meist über die „grüne Grenze“, gibt, will Dróżdż gar nicht leugnen, er kann es angesichts des hohen Lohngefälles sogar verstehen. 1.500 Personen haben seine Mitarbeiter im vergangenen Jahr festgenommen, darunter 500 Migranten, die meisten von ihnen aus Sri Lanka, Bangladesh, aber auch aus Vietnam, Afghanistan und dem Irak. Und die Dunkelziffer? Piotr Dróżdż zuckt mit den Schultern. „Schwer zu sagen“, meint er. „Vielleicht sind es 400, die es schaffen, vielleicht auch weniger“.
Zamosc: vor allem alte Bauern
Klaus-Peter Hesse ist sichtlich überrascht. Gerade noch hat er Steffen Dittes, wenn auch nur im Scherz, zugerufen, hier müsste der Bundesgrenzschutz mal zur Nachhilfe anrücken. Der ansonsten eher zurückhaltende SPD-Abgeordnete Käse hatte gekontert, in Polen seien schon genügend deutsche Stiefel einmarschiert – auch nur ein Scherz. Doch die ruhige Art des Grenzschutzchefs hat Käse mehr beeindruckt als der Einwurf seines SPD-Kollegen. 400 illegale Flüchtlinge pro Jahr, mit so wenigen hatte Hesse nicht gerechnet. Auch Jan Menzer und Kai Haake, der Mitarbeiter der CDU-Europa-Politikerin Ursula Heinen, verlassen Medyka nicht ohne ein paar anerkennende Bemerkungen. Erwartet hatten sie eine Show mit eingespielten Festnahme- und Actionszenen, wie sie noch Innenminister Otto Schily bei seinem Besuch in Przemyśl im Frühjahr geboten wurde. Was sie bekamen, waren selbstkritische Antworten von Dróżdż und seinen Mitarbeitern. Damit hatte hier niemand gerechnet.
Rund um Zamość, den Geburtsort Rosa Luxemburgs, scheint die Zeit stillzustehen. „Über 70 Prozent der Bevölkerung leben hier von der Landwirtschaft“, sagt Herr Klimczuk von der örtlichen Handwerkskammer. Polnische Landwirtschaft, das ist, ähnlich wie Grenzsicherung, ein Reizwort für viele Deutsche. Alles kein Problem, lautet dagegen die Parole von Klimczuk, alles eine Frage der Demografie. „Der Großteil der Kleinbauern, die den größten Anteil der etwa zwei Millionen Höfe in Polen ausmachen, wird ohnehin bald in Rente gehen.“
Auch in Wiesław Gryns Nachbarschaft überwiegen die Selbstversorgerhöfe, die oftmals nur ein, zwei Hektar groß sind. Doch Gryn glaubt nicht, dass die Alten irgendwann den Jungen den Weg freimachen. „Die werden auch nach der Rente ihre Felder bestellen, weil sie nicht von 200 Mark leben können“, sagt er. Für ihn selbst ist das ein Problem. „Die EU hetzt uns“, sagt er. „Um auf dem Markt einmal bestehen zu können, müssen wir immer größer werden“. 150 Hektar hat Gryn schon heute, doch der Landkauf gestaltet sich schwierig, vor allem wegen der kleinen Höfe, die auch seine Äcker zerstückeln.
Stephanie Günther hat sich den polnischen Osten dennoch anders vorgestellt, „irgendwie ärmer“, wie sie sagt. Was die grüne Abgeordnete aus Baden-Württemberg auch nicht erwartet hatte, war die Aufgeschlossenheit der polnischen Gesprächspartner gegenüber ökologischen Themen. Regionalisierung, nachwachsende Rohstoffe, Agrotourismus sind Begriffe, mit denen auch der Vertreter der regionalen Wirtschaftskammer in Zamość ganz selbstverständlich hantiert, auch wenn vieles davon bloßer Wunschtraum bleiben wird, wie Günther befürchtet.
Die gleiche Angst vor Kriminalität
Dass Reisen bilden, gilt auch für Jungpolitiker, vor allem für den Hamburger CDU-Abgeordneten Klaus-Peter Hesse. Der bescheinigt am Ende der Fahrt seinem thüringischen PDS-Kollegen Steffen Dittes sogar, ein Demokrat zu sein. Dittes nimmt es mit Humor, vielleicht weil er weiß, dass Westdeutschland seine Osterweiterung nicht verkraftet hat.
Auch Jan Menzer sieht nun manche Dinge anders. „Meine Bedenken bezüglich der EU-Osterweiterung sind geringer geworden“, sagt er. „Vor allem die Grenzsicherung ist doch sehr vertrauenserweckend, vor allem wenn man mitbekommt, dass es in Polen eine ähnlich große Angst vor organisierter Kriminalität gibt wie in Deutschland.“Auch das Dilemma der Polen, einerseits die Grenze für Ukrainer und Weißrussen schließen zu müssen, andererseits aber Ausnahmeregelungen bei den Visabestimmungen zu fordern, hat er begriffen. Nur: „Das ist das Problem der Polen“, sagt Menzer. „Da können sie nicht verlangen, dass wir uns in der EU dafür einsetzen.“ Auch eine Osterweiterung des Horizonts hat ihre Grenzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen