Die neue Flüchtigkeit

Wer archiviert das Internet? Archivwissenschaftler und Medienarchäologen diskutierten in der Mikrolounge des WMF über die Zukunft der Erinnerung

von SEBASTIAN HANDKE

In korrektem Amtsdeutsch nennt man es „Verwahrungsbruch“, und in Wendezeiten kommt er besonders häufig vor. Als es 89/90 endlich zur Wiedervereinigung eines geteilten Aktenstaates kam, wurde gelöscht, was der KC 85 hergab. Die erbeuteten DDR-Magnetbänder blieben unlesbar, denn es fehlte die Software, die die gespeicherten Daten hätte dekodieren können.

Dabei war das Ende des Reißwolfs bereits eingeläutet worden. Mit der Erfindung des elektronischen Massenspeichers schien es, also könnte man das Datum von seinem materiellen Träger lösen und der Sphäre des Unvergänglichen überantworten. Doch ebenso wie selbst Frohnaturen sich der Illusion vom papierlosen Büro beraubt sehen müssen, wirken digitale Daten inzwischen vergänglicher als jene Zeichen, die in Wachsmatrizen eingekratzt worden sind.

Es gab also durchaus Anlass, sich in schöner Konvergenz von Club- und E-Kultur im WMF zu treffen. Dort veranstaltete der Mikro e. V., Verein zur Förderung von Medienkulturen in Berlin, bereits zum 27. Mal seine Mikrolounge zur Vernetzung von Medientheoretikerinnen und -aktivisten. Thema dieses Mal: „Vom Dokument zur Datei: die Zukunft der Erinnerung“.

Tilman Baumgärtel, der tüchtige Moderator, saß auf dem Sofa zwischen dem mit zahlreichen Thesen aufwartenden, tief romantischen Medienarchäologen Wolfgang Ernst und dem emeritierten Archivwissenschaftler Botho Brachmann, der das Auditorium mit knallharten Zahlen, trockenem Humor und altersklugen Anekdoten zu versorgen wusste.

Da gibt es ja die romantische These vom Internet als erstem umfassendem Gedächtnis unserer Kulturen. Durch Selbstorganisation soll ein vollständiges Gedächtnis entstehen. Aber dieses Anarcho-Archiv ist eher ein flüchtiger Zwischenspeicher – Random Access Memory – als ein Langzeitspeicher im Sinne des klassisches Archivs. Wer also archiviert das Internet? Die Vernetzung und Integration verschiedener Formate durch die Übersetzung der Information in den Binärcode gilt als der wohl größte Gewinn, den die Digitalisierung mit sich bringt. Damit gewinnt man über ein einziges Interface den Zugriff auf eine stetig wachsende Ansammlung unterschiedlichster Informationen – die Geburt der Suchmaschine.

Abgesehen von den Problemen, vor denen man bei der Programmierung solcher Schnittstellen steht, entsteht eine neue Flüchtigkeit: Was passiert, wenn der Support für die entsprechende Software aufgegeben wird? Gerüchten zufolge wird Dejanews, das wichtigste Archiv aller über das Usenet ausgetauschten Nachrichten, seinen Dienst einstellen. Damit ginge ein gewaltiges Wissensarchiv der ersten Stunde verloren.

In den USA können die Daten der letzten Volkserhebungen nicht mehr gelesen werden, weil Hard- und Software nicht mehr zu handhaben sind. Microsoft hat es vorgemacht: Aktuelle Versionen eines Programms können Dokumente, die mit einer älteren Version derselben Software erstellt wurden, nicht mehr öffnen. Dennoch sammeln geförderte Museumsstätten oder narzisstisch veranlagten Firmen wie Apple lediglich die Maschinen. Softwarearchive dagegen werden meist in Privatinitiative aufgebaut. „Abandoware Community Triumph“ nennt sich eine solche Initiative, die jene Software archiviert und zugänglich macht, die von ihren Herstellern nicht mehr unterstützt wird.

Doch damit gerät man schnell in Konflikt mit dem Copyright. Welche Dimensionen dieser Konflikt hat, zeigt die aktuelle Diskussion über den Zugang zum vielleicht wichtigste aller Archive: die Dateien des Genom-Projektes. Und dann ist da noch der Traum von dem einen gewaltigen Speicher allen menschlichen Wissens. Doch auch an dieser Stelle konnte der Archivwissenschaftler alle Hoffnungen begraben: Wenn allein in Deutschland drei Millionen „laufende Meter“ historisches Archivgut vorhanden sind und jeder Meter bei der Digitalisierung 50.000 Mark kostet, stellt sich die Frage nach den Sponsoren solchen archivarischen Übermutes gar nicht erst. So bleiben wahrscheinlich zwei Speicher nebeneinander bestehen. Ein radikaler Gedächtnisbruch, der an diesem Abend kaum zu Sprache kam: Wie in Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ verbrennt ein neues Gedächtnis das alte. Es gibt Forderungen, in Zukunft alle Akten sowohl auf Papier als auch in elektronischer Form zu speichern.

Da wäre es auch eine gute Sache, das Internet einfach regelmäßig auszudrucken. Nach der Schätzung von Botho Brachmann sind das momentan popelige 200.000 laufende Meter.