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An der Spitze muss es nicht einsam sein

Die Filmoor-Standschützenhütte ist ein Streckenposten auf dem Osttiroler Friedensweg: Vier Monate im Jahr verbringt der Wirt auf 2.360 Metern Höhe. Besuch hat er nur von Wanderern und Berggeistern. Mehr braucht er auch nicht

Für Günther Haring endet der Sommer im Oktober. Er schließt die Tür der Filmoor-Standschützenhütte ab und steigt zum letzten Mal hinunter ins Osttiroler Gailtal. Hinter ihm liegen vier Monate auf einem Zivilisationszipfel, der eigentlich nicht für Menschen geeignet ist.

Der Hauptkamm der Karnischen Alpen ist dennoch zu einer beliebten Route ausgebaut worden, die die Grenze zwischen Italien und Österreich begleitet. Der Steig heißt Friedensweg, weil er die Schlachtstätten des Ersten Weltkriegs streift, an betonierten Gefechtsständen vorbeiführt und Stacheldrahtverhauen, die seit 85 Jahren rosten. Die Tiroler Bauernbuben schichteten Felsbrocken zu Verteidigungsmauern, bevor sie erschossen wurden oder sich die Zehen abfroren. Heute packen Bergsteiger in den windgeschützten Winkeln ihre Brotzeit aus.

Als der Höhenweg aus den Versorgungsrouten der Soldaten zusammengesetzt wurde, klaffte eine Lücke. 1977 marschierte das Jäger-Bataillon 24 des österreichischen Bundesheeres in friedlicher Absicht auf den Filmoor-Sattel. Die Männer zimmerten aus Balken und Brettern eine Hütte. Der Dorfpfarrer spendete den Segen der Kirche und dann stand das Häuschen leer. Es ist zu klein, um einen Wirt reich zu machen und zu weit vom Leben entfernt. Gerade deshalb bot Günther Haring dem Alpenverein an, Streckenposten an der Flanke des Großen Kinigat zu werden. Wer in 2.360 Metern Höhe übersommert, muss unempfindlich sein gegen Einsamkeit. „Wenn man sich nicht allein beschäftigen kann, läuft doch was falsch im Leben. Ich versteh’ das nicht“, sagt Haring.

In den Tagen des 48-Jährigen ist Langeweile nicht eingeplant. Sobald der Wetterdienst stabilen Sonnenschein verspricht, erlebt er den Auftrieb der Wandervögel. Er sieht bunte Punkte am Ende des Tals, die im Laufe einer Stunde größer werden und sich dann schnaufend in seine Hütte setzen, nach Bier verlangen und ein paar Tipps zum nächsten Teil der Strecke. Viele sind fasziniert von dem Wegweiser neben dem Fahnenmast. „Nur für Geübte“ steht auf der Tafel, die zum Klettersteig weist. „Ein falscher Schritt und sie liegen zerschmettert unten“, sagt Haring, oder: „Das ist wirklich ein schöner Weg.“ Wem er was sagt, muss er nach dem ersten Blick entscheiden.

Aber es gibt auch die grauen Tage, an denen die Berge bis zu den Knien in Schleiern stehen. Dann spürt Haring, dass zwischen ihm und dem wispernden, brüllenden Wind nur eine Holzwand ist. An solchen Tagen kommen die Berggeister. Haring sagt, es seien Gefallene. Er hat ein vergilbtes Foto aufgehängt, bärtige Männer in Uniform, von denen die meisten nicht zu ihren Familien ins Tal zurückkehrten. Haring trinkt einen Schnaps auf das Wohl ihrer Seelen und denkt an sie, weil er hofft, dass es sie beruhigt. Der Wirt ist nicht verrückt, er ist nur anders geworden in 21 Bergjahren. Sein Gesicht ist wetterrot unter blondgrauen Locken und der Blick stößt dauernd gegen die Wände der Holzstube. Er braucht die Aussicht über das Tal.

Der Herbst kommt früh in den Bergen. Die Almwiesen sehen struppig aus, ihr Gras hat den Gilb. Es ist, als ob sich das Leben unter die Erde zurückgezogen hätte, um dem Winter nicht im Weg zu stehen. „Der September war ein schöner Monat“, sagt Haring. Er denkt an die Sonne, die er morgens hinter den Hohen Tauern hervorkommen sah, nicht an die zehn verschneiten Tage, die wie ein menschenfeindlicher Block im Monat saßen. Sie haben seine Saison nicht kaputtgemacht, das kann Haring in der Vorratskammer feststellen. An zwei Tagen war der Hubschrauber dagewesen. Er schleppte Netze mit Lebensmitteln herauf, jeweils eine halbe Tonne. Der Wirt hatte Mehl, Kanister mit Öl, Schnaps, Kaffee, Tee, Wein und Konserven gestapelt. Das Bier stand als Dosenwand bis unter das Dach. Das meiste ist verbraucht. „Man kann nicht so genau schätzen, wie viel für einen Sommer nötig ist“, sagt Haring. Und dem Winter kann er nur überlassen, was zwanzig Minusgrade aushält.

„Eine Hütte heißt Hütte, weil sie kein Haus ist“, sagt Haring. Zwanzig Jahre lang brauchte er keinen Schritt zu machen, um vom Herd aus seinen Gästen das Essen zu servieren. Es gab einen Tisch. Wenn zehn Leute daran saßen, war der Raum voll. In diesem Jahr hat der Alpenverein die Filmoor-Hütte erweitern lassen. Seither spendet ein Boiler warmes Wasser zum Zähneputzen, Luxus pur. „Glücklicherweise habe ich mitsprechen können“, sagt Haring. Er setzte durch, dass keine Wand zwischen Kochnische und Gaststube eingezogen wurde. Dort stehen jetzt zwei Tische, aber noch immer können sich alle miteinander unterhalten, und der Wirt sorgt dafür, dass sie es auch tun.

Im Herd knuspert das Feuer an den Holzscheiten. Fünf Wanderer aus Franken sind am Nachmittag über den Sattel gestiegen. Sie haben sich auf die Bänke fallen lassen und ihre Rücken an die Hüttenwand gelehnt. Jetzt sitzen sie in der Stube und spielen Karten. „Sagen Sie, hätten Sie eine Flasche Wein für uns?“, fragt einer. „Das hier ist ein Zweigelt aus dem südlichen Burgenland, der ist fast schon unter ungarischer Sonne gewachsen. Jetzt kostets mal, ob er euch behagt“, sagt der Wirt und zupft den Korken aus dem Flaschenhals. Der Franke nickt, und Haring stellt den Wein auf den Tisch. „So, dann wünsche ich euch viel Spaß damit.“ Der Wirt fragt nicht, was die Gäste essen wollen, er kocht. Auf dem Feuer steht ein Eisentopf mit Bügel, in dem Polenta wie Lava blubbert. Bratwurst gibt es dazu und einen Schlag Sauerkraut. Haring hat auch für sich eine Portion geschöpft, sitzt neben seinen Gästen und schließt den Kreis. BERND HEIN

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