: „Milošević muss vor Gericht“
Veran Matić, Direktor des freien Belgrader Radiosenders „Free B2-92“, über den Bewusstseinswandel in Serbien
taz: Es ist unglaublich, mit welchem Tempo in Belgrad innerhalb weniger Stunden die wichtigste Bastion des Milošević-Regimes gestürzt wurde – die staatlichen Medien. Wie lässt sich dieser schnelle Wechsel der Fronten erklären?
Veran Matić: Dieser Mechanismus ist sehr typisch für autoritäre Regime. Es ist nicht wichtig, wer formal an der Macht ist, sondern wer die tatsächliche Macht hält. Schon am Donnerstagnachmittag war klar, dass die Demonstranten vor allem darum bemüht sein würden, die Kontrolle über die Medien zu erlangen. Auch der jetzt ehemalige Präsident Milošević hatte sein Emporkommen und seinen langen Machterhalt der Hilfe der Medien zu verdanken. Jetzt wurde das Staatsfernsehen von der serbischen Opposition besetzt, und in den anderen Medienhäusern haben die Journalisten sich sofort von sich aus der demokratischen Opposition zugewandt. Diese Situation in den Medien wurde sicherlich schon nach dem offensichtlichen Sieg von Vojislav Koštunica bei den Präsidentenwahlen vorbereitet.
Sind aus diesen befreiten Medienanstalten schon unzensierte Informationen gekommen?
Alle haben schon begonnen, über die Proteste zu berichten. Im staatlichen Fernsehen gastierte schon am Donnerstagabend der neugewählte Präsident Koštunica, andere Politiker der demokratischen Opposition traten auf anderen Fernsehkanälen auf. Damit wurde praktisch der Machtwechsel in den Medien vollzogen. Was die staatliche Nachrichtenagentur Tanjug betrifft, denke ich, dass sie definitiv zu einem Kurswechsel bereit ist.
Muss man damit rechnen, dass Slobodan Milošević doch noch Gewalt anwendet?
Allein die Tatsache, dass die Armee sich in der ersten Welle der Proteste zurückhielt, spricht für sich. Jetzt müsste man sich bald darüber klar werden, was man mit Milošević macht, also ob und wie man ihn verhaften und verurteilen wird. Denn Milošević hat nicht nur zehn Jahre seines eigenen Volkes zerstört, er hat anderen Völker und Gebieten im ehemaligen Jugoslawien noch weit mehr Gewalt angetan. Ich hoffe, dass die Vertreter der neuen Regierung sich darüber ernste Gedanken machen werden. Präsident Koštunica hat zwar gesagt, dass er Milošević nicht an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausliefern würde, aber er hat nie die Möglichkeit ausgeschlossen, dass man ihm in Belgrad richten könnte. Auch alle anderen Personen, die an der Verbreitung des Schreckens beteiligt waren, werden sich vor dem Gesetz verantworten müssen – das wird sicherlich eine der ersten Aufgaben der neuen Regierung sein. Die Schuldigen vor Gericht zu bringen, ist die Bedingung für einen Prozess der Versöhnung in dieser Region. Die Katharsis, durch die die Bevölkerung Serbiens gegangen ist, hat unsere Nachbarn tief berührt. Es ist interessant, dass die erste Person, die anrief, um uns zum Umsturz zu gratulieren, eine Kroatin war, die uns über die Welle eines Sendemasts aus Bosnien-Herzegowina gehört hatte.
Kann man sagen, dass das Regime von Slobodan Milošević endlich gestürzt ist?
Es ist immer noch am Fallen. Wir müssen jetzt darauf achten, dass nicht wieder ein Regierungskonzept entwickelt wird, das in irgendeiner Weise dem von Milošević ähnelt. Man darf nicht vergessen, dass die geistige Verfassung der Menschen in Serbien ein großes Problem darstellt. Wir brauchen eine Art geistige Dekontamination der Gesellschaft. Wir müssen eine gesunde Umgebung schaffen, die fähig ist, ein Teil der westlichen Zivilisation zu werden. INTERVIEW: JASMINA NJARADI; ÜBERSETZUNG: MELINDA BIOLCHINI
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