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Bis zum Bauch im Wasser

Am guten Willen mangelt es nicht. Die Hilfsbereitschaft ist groß. Doch nicht immer erreicht die Hilfe auch die Opfer der Flut

aus Kambodscha JUTTA LIETSCH

Seit dem Morgengrauen hocken die 78-jährige Hoe, ihre Enkelin und ihre Nachbarn auf dem feuchten Boden und warten auf das Verteilen von Hilfsgütern durch das Rote Kreuz. Mit 3.483 anderen Familien aus der Umgebung steht Hoe diesmal auf der Empfängerliste, die der Dorfchef vorbereitet hat. „Ich weiß nicht, was man mir geben wird“, sagt die alte Frau ergeben, „ich brauche alles.“ Seit ihre winzige Hütte am Deich des Dorfes Ba Choi weggeschwemmt wurde, hat ihre Enkelin sie aufgenommen. Deren Bambushäuschen ist zwar voller Wasser, aber es steht noch.

Schließlich wird Hoe mit einem Rot-Kreuz-Familien-Standardpaket bedacht. Dazu gehören ein Sack mit 20 Kilogramm Reis, zwei Tüten Instant-Nudeln, ein kariertes kambodschanisches Tuch, ein Sarong, ein paar Plastiklatschen, ein gebrauchtes Hemd oder eine Hose aus einer internationalen Kleiderspende, eine Plastikmatte und acht Stück Seife. Zwanzig Kilo Reis reichen, so rechnen die Hilfsorganisationen, weniger als einen Monat für eine fünfköpfige Familie. Was dann wird, „weiß ich nicht“, sagt Hoe.

Die Schule ist die letzte Zuflucht

„Vor zwei Wochen standen wir hier noch im Wasser“, sagt Pum Chantinie vom kambodschanischen Roten Kreuz, als sie mit dem Boot an der Dorfschule von Ba Choi anlegt. Damals mussten Chantinie und ihre Kollegen noch Reissäcke und Hilfspakete zum Deich schleppen, auf den sich die Bewohner der umliegenden Dörfer seit Beginn der großen Flut gerettet haben. Aber, sagt die zierliche Frau, „wir haben Glück“. Jetzt ist wenigstens der Boden um die Schule herum wieder zu betreten.

Seit August kann diese Region in der Nähe von Vietnam nur noch vom Fluss aus erreicht werden. 95 Prozent der kambodschanischen Provinz Kandal stehen unter Wasser. Die „Nationalstraße Nr. 1“, die wichtigste Verkehrsader in den Süden, ist unterbrochen. Und wie in Kandal sieht es in vielen Provinzen des 10-Millionen-Landes aus.

Die schlimmste Überschwemmungskatastrophe in Kambodscha seit über siebzig Jahren hat dramatische Zerstörungen hinterlassen. Eine Fläche drei Viertel so groß wie Holland steht unter Wasser, ein Fünftel der Kambodschaner leidet unter der Flut. Bauern haben die Reisernte auf den Feldern oder die Früchte in den Gärten verloren, Tagelöhner finden keine Arbeit mehr, Händler keine Kunden, Hunderttausende sind obdachlos. Straßen, Brücken, Bewässerungskanäle, lebenswichtige Brunnen und Fischteiche sind zerstört.

Auch in Laos, Vietnam und Thailand, den anderen südostasiatischen Anrainerstaaten des Mekongflusses, sind die Schäden der Flut noch nicht abzuschätzen. „Statt wie sonst im September fing es bereits im Juli an zu regnen, und das kann bis November noch so weitergehen“, seufzt Chantinie vom Roten Kreuz. Mehr als 250 Menschen, vor allem Kinder, kamen bei dem Hochwasser in Kambodscha bislang ums Leben. Doch viele hatten Glück im Unglück: Weil das Wasser im Mekong und den anderen großen Flüssen relativ langsam stieg, konnten die meisten Bewohner der betroffenen Orte sich und ihre Tiere rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Die Zeremonie der Hilfsgüterverteilung in Ba Choi ist an diesem Tag besonders sorgfältig vorbereitet. Bun Rany, Ehefrau des mächtigen Regierungschefs Hun Sen, erscheint persönlich, um die Hilfe für die Flutopfer zu übergeben. Die 48-Jährige ist Präsidentin des kambodschanischen Roten Kreuzes und derzeit ständig in den kambodschanischen Zeitungen abgebildet. Mit einem Tross von Ministergattinnen, wohlhabenden Geschäftsfrauen und anderen Ehrenmitgliedern des Roten Kreuzes reist sie durchs Land. „Die Menschen sind uns so dankbar für die Zuwendung“, sagt Bun Rany, die wie ihre Begleiterinnen die Uniform der Organisation trägt – dunkelblauer Rock, hellblaue Bluse mit dem roten Kreuz auf der Brust.

Etwa 400.000 Menschen, so hat das Rote Kreuz ausgerechnet, leiden in Kambodscha derzeit bittere Not. Doch bislang „konnten wir erst die Hälfte dieser Leute erreichen“, klagt die Deutsche Monika Midel, Chefin des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen in Kambodscha. „Es gibt immer noch große Gebiete, wo wir einfach keine Verteilung organisieren können.“ In einigen Fällen kommen Lastwagen und Boote nicht zu den Lagerhäusern durch. „Oder es gibt mancherorts einfach keine trockene Stelle, an der wir den Reis abladen können“, sagt Midel. Anders als bei der jüngsten großen Flut in Mosambik werden Hilfspakete nicht einfach von Hubschraubern und Flugzeugen abgeworfen, sagt Midel, „dabei geht zu viel verloren“. Der Reis fängt schnell an zu faulen, landet er auf feuchtem Untergrund. Rotkreuzlerin Chantinie fürchtet die kommenden Wochen, wenn das Saatgut fehlen wird, um die nächste Ernte im Frühjahr vorzubereiten. Und wenn das Wasser aus den verschmutzten Brunnen und Tümpeln tödliche Krankheiten bringt.

An Spendenbereitschaft für die Katastrophenopfer mangelt es bislang nicht – weder im Land noch international. Als die Bilder der Fluten über die Fernsehschirme liefen, flossen schnell Hilfsgelder auf die Konten von Organisationen wie Oxfam, terre des hommes oder World Vision. Viele kleinere Hilfsorganisationen, die in kambodschanischen Krankenhäusern, Bauernprojekten, Wiederaufforstungsvorhaben und Fischerkommunen arbeiten, sammelten ebenfalls. Auch die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) hat ihre Arbeit in der Provinz Kampot vorläufig auf die Fluthilfe umgestellt. Und die Bundesregierung sagte Kambodscha am Montag insgesamt 15 Millionen Mark zu, mit denen die Infrastruktur in Stand gesetzt werden soll.

Die UNO schätzt, dass sie zusätzlich mindestens rund 10,7 Millionen Dollar braucht, um im nächsten halben Jahr die schlimmsten Schäden zu beheben. Unter so genannten „Nahrung für Arbeit“-Programmen sollen die Bewohner der Provinzen dann unter anderem ihre Wege reparieren, sich ein Dach über den Kopf zimmern, Reservoire säubern, zerstörte Schulen und Krankenstationen wieder aufbauen. In dieser Zeit erhalten sie Reis und andere Lebensmittel. Allerdings richteten die Fluten einen Schaden von rund 50 Millionen Dollar an, errechnete die Regierung. „Die schlimmste Zeit steht uns noch bevor. Es wird Jahre dauern, bis der alte Zustand wieder erreicht ist“, fürchtet Monika Midel vom Welternährungsprogramm. Auch „in normalen Jahren“ gibt das WFP 20 Millionen Dollar für Kambodscha aus, das bis heute unter den Folgen von dreißig Jahren Krieg und Herrschaft der Roten Khmer leidet.

Die Überschwemmungen in Südostasien zeigen, wie schwierig Katastrophenhilfe zu bewerkstelligen ist. Das kambodschanische Rote Kreuz und der neue nationale Krisenstab in Phnom Penh versuchen derzeit verzweifelt, die Verteilung der Güter zu koordinieren. „Es ist ein logistischer Albtraum. Wir wollen doch vermeiden, dass sich alle Helfer auf die gleichen Orte stürzen und andere nichts abbekommen“, sagt Midel.

Hilflose Spende aus Deutschland

Zuweilen erweisen sich auch gut gemeinte Gesten als hilflos. Die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die nach einem Aufenthalt in Vietnam am Wochenende auch Kambodscha bereiste, stieg in der Provinz Kampong Thom sichtlich bewegt aus ihrem Hubschrauber. Hunderte von Kilometern, so weit das Auge reichte, war sie zuvor mit ihrer Begleitung über verschwundene Felder, versunkene Häuser und vom Land abgeschnittene Tempelanlagen geflogen.

Sie übergab den Bewohnern eines Dorfes eine Ladung von Wasserkanistern, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte. Freundlich, aber etwas verdutzt schauten die Empfänger auf die faltbaren 10-Liter-Behälter. „Es ist die falsche Größe“, seufzte eine deutsche Ärztin, die seit vielen Jahren vor Ort arbeitet. Die deutschen Spender hatten nicht bedacht, dass die in Kambodscha üblichen Tabletten zur Trinkwasser-Reinigung nur für 25-Liter-Gefäße geeignet sind. Doch womöglich ist die Kanister-Panne nicht so schlimm. „Die meisten Leute schmeißen die Desinfektionspillen ohnehin einfach weg“, sagt eine Assistentin von Buny Rany, der Rot-Kreuz-Präsidentin. „Gereinigtes Wasser schmeckt ihnen zu muffig, das mögen sie nicht. Das Unwissen ist groß“, sagt sie. „Ihr müsst euren Familien unbedingt gereinigtes Wasser zum Trinken geben“, ruft in der Provinz Kandal Bun Rany der alten Bäuerin Hoe und ihren Nachbarn zu. „Sonst werden eure Kinder sehr krank und sterben.“

Die kambodschanische Regierung von Premier Hun Sen weiß die Krise politisch für sich zu nutzen. Unermüdlich fliegen Hun Sen und seine Minister derzeit im Land umher und verteilen Reis. Keiner wirft ihnen in diesen Tagen vor, korrupt und gewalttätig zu sein. Hun Sens Ehefrau Bun Rany hat extra eine Gallensteinoperation verschoben. Die parteinahen Zeitungen und Rundfunksender sorgen dafür, dass die Opferbereitschaft der First Lady gebührend gewürdigt wird – und machen sich über die zersplitterte Opposition lustig, deren Führer nichts zu organisieren versteht.

„Die Flutkatastrophe ist ein doppelter Schlag für uns“, sagt Bürgerrechtler Lao Mong Hay, „weil die Regierung sie auch noch zum Vorwand nimmt, wichtige politische Reformen zu verzögern.“ Dazu gehört das Gesetz für die ersten freien Kommunalwahlen in Kambodscha. Auch für die Vorbereitung des umstrittenen Menschenrechtstribunals gegen die Verantwortlichen der Roten Khmer, unter deren Herrschaft in den Siebzigerjahren mehr als eine Million Menschen starben, „behaupten sie jetzt, keine Zeit zu haben“, kritisiert Lao.

Madame Präsident Bun Rany fechten solche Vorwürfe nicht an: „Die Opposition schreit immer“, sagt sie. „Lass sie schreien. Wir hören doch nicht hin.“

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