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Filmen aus der beschwipsten Ferne

Schwerreiche Clochards, viel Schnaps und geldgierige Gattinnen in einem Paris der finanziellen Verschwörungen. In seiner neuesten Arbeit orchestriert der Georgier Otar Iosseliani den Wiederholungszwang des Lebens zur filmischen Partitur. „Marabus“ ist ein bewegter Film über die Bewegungslosigkeit

von ANKE LEWEKE

Wenn alles seinen gewohnten Gang geht, wenn sich alles nach einer festen Ordnung verhält, wenn alles Leben schon eingerichtet ist, ohne dass es sich jemals ausrichten konnte – was bleibt dem Filmemacher dann noch außer einem Achselzucken? Angesichts solcher Starre ist die Abbildung derselben ein fast unmögliches Unterfangen. Denn die beiden Säulen des Kinos heißen nun mal Motion und Emotion – ohne innere Bewegung keine äußere und umgekehrt. Insofern ist jeder Film von Otar Iosseliani ein Paradoxon, denn die Arbeiten des Georgiers in Paris handeln von der Statik des Daseins, gleichzeitig ist aber alles und jeder ständig in Bewegung. Mit stoischer Gelassenheit erhebt sich dieser Regisseur über die Verhältnisse, indem er die verselbstständigten Strukturen mit ihren Wiederholungszwängen als filmische Partitur orchestriert. Womit wir beim zweiten Paradoxon in Iosselianis Schaffen wären: Auch wenn seine Klangbilder von einem tiefen Kulturpessimismus geprägt sind, sieht und hört man sie sich durchaus mit großem Vergnügen an.

Nach Verlassen seines neuen Films „Marabus“ auf den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes ging ich mit einigen Journalistenfreunden erst mal an die nächstbeste Theke, um einen doppelten Calvados zu heben. Dabei versuchten wir wie der junge Held im Film, das Glas durch eine geschickt-verschraubte Drehung des Armes zum Mund zu führen, was zu einigen Flecken auf unserer Kleidung führte. In diesem beschwipsten Zustand rückten die Dinge und Personen genau wie bei Iosseliani in eine angenehme Ferne, als würde man durch ein umgekehrtes Fernglas auf die Welt blicken. Wie jeden Abend standen auch diesmal Heerscharen von Journalisten entsprechend der Farbe ihrer Akkreditierung in den für sie vorgesehenen Wartereihen. Und plötzlich konnten wir nur noch staunen über die Absurdität dieser rigiden Hackordnung.

Staunen aus der beschwipsten Ferne – das ist ungefähr auch die Perspektive von Iosselianis neuem Film „Marabus“. Und die bevorzugte Haltung des Regisseurs. Einmal wurde ich am frühen Morgen für ein Interview in seine kleine Pariser Wohnung gebeten, die mit afrikanischen Souvenirs samt Zebrafell-Teppichen vollgestopft ist. Innerhalb kürzester Zeit war meine Funktion auf das Nachfüllen der Wodka-Gläser reduziert, während die Übersetzerin und Iosseliani sich bestens unterhielten.

In seinem neuen Film hat er sich mit dem Part des reichen Clochards so etwas wie eine Idealrolle auf den Leib geschrieben. Im goldenen Gefängnis seines Anwesens außerhalb von Paris hat sich der Fluss des Geldes längst verselbstständigt. Mit einem Hubschrauber kontrolliert die geschäftstüchtige Gattin die Umsätze, während er selbst dem Alkohol beim Destillieren zuschaut bzw. versteckte Weinflaschen aus dem Brunnen zieht – jedem seine ganz eigene Bewegung. „Spirit, Spirituosen und spirituell“, so freut sich Iosseliani denn auch im Interview zu „Marabus“ und beruft sich gleichzeitig auf antike Vorbilder: „Auch in Platons erkenntnistheoretischem ‚Gastmahl‘ pflegte man den Trinkspruch ‚in vino veritas‘ in die Tat umzusetzen.“

Neben der Destillier- bzw. Wahrheitsproduktionsmaschine steht neben Iosselianis Filmbett auch noch eine Modelleisenbahn. Miniaturen der hypermodernen Hochgeschwindigkeitszüge ziehen verschlungene Kreise, um doch wieder an ihrem Ausgangspunkt zu landen. Eine für den gesamten Film symptomatische Bewegung, die vor allem die Kinder des Hausherrn nachvollziehen müssen. Immer wieder kehrt die Kamera zu dem kleinen Mädchen zurück, das anfangs von den Erwachsenen zurechtgewiesen wurde und seitdem traurig am Fenster steht.

Der zwanzigjährige Nicolas hingegen versucht aus dem für ihn vorgesehenen Kreislauf auszubrechen. Heimlich verdrückt er sich nach Paris, um jugendlichen Bettlern zu helfen, mit Gelegenheitsjobs ein anderes Leben kennen zu lernen. Doch die Regeln, die der kleinen Schwester noch verbal mitgeteilt werden, hat die Stadt längst verinnerlicht. Iosselianis Paris scheint von einem unsichtbaren Uhrwerk aufgezogen. In gewissem Sinne ist Nicolas ein entfernter Nachkomme Chaplins, ein verirrtes Pünktchen im Räderwerk, nur dass hier längst alle Mittel abhanden gekommen sind, mit denen man die Maschinerie stoppen könnte. So gerät der Kerl in nicht enden wollende Kettenreaktionen, die auf bloßen Mehrwert ausgerichtet sind. Er wäscht die Teller in einem Familienrestaurant, die die alte Patronin inspiziert, und wo der kleine Enkel das Erschleichen von Trinkgeld lernt. Er putzt die Fenster des heruntergekommenen Ladens, in dem Russen gefälschte Ikonen verkaufen, und schreibt jungen Cloachards frei erfundene Bettelzettel – alle Kassen klingeln.

Formal manifestiert sich die Vorbestimmtheit in Iosselianis Paris der finanziellen Verschwörungen mit fließenden Übergängen und sanften Rhythmen. Jede neue Einstellung wird von den Tönen und Klängen der vorherigen eingeholt. Nur der Marabu, der bei den Festen von Madame auf dem Anwesen seine Auftritte hat, vermag den Kreislauf mit seinen seltsam feierlichen Auftritten zu unterbrechen. Seine majestätische wie eklektizistische Schönheit steht für sich allein. Am Ende ist er aber doch nur ein jämmerlicher Vogel, dem noch nicht einmal ein goldener Käfig zusteht.

Endgültige Auszeit oder den dauerhaft beschwipsten Blick aus der Ferne gönnt sich in diesem Reigen ohnehin nur der alte Patron. Am Ende segelt Iosselianis Filmcharakter mit einem Boot voller Weinflaschen und einigen Gleichgesinnten von dannen.

„Marabus“. Regie: Otar Iosseliani. Mit Nico Tarielashvili, Lily Lavina, Otar Iosseliani, Amiran Amiranachvili, Joachim Salinger u. a. Frankreich 1999, 117 Min.

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