: Gebt „Erstis“ eine Chance!
Aller Anfang ist schwer: Von „Primi-Mäuschen“ bis zur I a-Frustrationstoleranz muss allerlei Neues zum Studienbeginn erlernt werden. Eine ethnologische Studie in der Rost- und Silberlaube der Freien Universität Berlin
Beim Schulabschluss sind sie ganz erwachsen, groß und unabhängig: die Abiturienten. Dann geht alles ganz schnell. Großer Urlaub nach Übersee und Zivildienst rauschen wie im Zeitraffer vorbei. Irgendwann wird es Herbst. Und das durch den passablen Numerus Clausus und das gelb gestrichene WG-Zimmer frisch erworbene Selbstbewusstein schrumpft zu einem niedlichen Diminutivum zusammen: Ersti.
Es gibt einen Ort, an dem weibliche Erstis im Grundschullehramt Primi-Mäuschen genannt werden und zur Begehung einen Tigerenten-Stundenplan überreicht bekommen. Es gibt einen Ort, an dem Erstis mit geisteswissenschaftlicher Orientierung besonders hübsch zu beobachten sind: die Rost- und Silberlaube der Freien Universität Berlin.
Anfänger irren durch die Gänge, vorbei an Informationstischen der Fachschaft, seltsamen Cafés, Probeabo-Aufdrängern und Wänden, die voll sind mit Zetteln, auf denen uninteressante Informationen stehen. Sie irren in kleinen Gruppen umher und gehen irgendwann auch in die Mensa – zum allerersten Mal.
Dort stellen sie sich bei „Unsere Auszubildenden empfehlen“ an, weil da die kürzeste Schlange ist. Die Auszubildenden flanschen ihnen je zwei Gemüsebrisoletten mit Stampfkartoffeln und zähflüssiger Champignonsauce auf den Teller. An der Kasse suchen sie umständlich nach ihrem Studi-Ausweis.
Neuerer deutscher Uni-Alltag. Das Seminar ist natürlich überfüllt, damit hat er nicht gerechnet, der Ersti, weil er nur Handelsblatt Junge Karriere gelesen hat. Der Ersti hat zu viel Kaffee getrunken, und deshalb meldet er sich für eine Hausarbeit und ein Referat an. Das macht er in jedem Seminar so. Er besucht jeden Tag mindestens drei Seminare. In der zweiten Woche hat er den Überblick verloren und bleibt erst mal zwei Tage zu Hause. Die neue Freiheit, man gönnt sich ja sonst nix.
Aber Freiheit bedeutet auch Einsamkeit: Der Ersti hat zwar tausend neue Gesichter gesehen, aber immer noch keine Verabredung fürs Kino. Literaturrecherche, Arbeitsgruppen mit elaborierten Strebern, akute Geldnot, Erlernen der amerikanischen Zitierweise – der Tiefpunkt ist schnell erreicht.
Irgendwann jedoch, gegen Ende des Semesters, hat der Ersti bestenfalls das gewonnen, was ihn ganz sicher in seinem Uni-Leben sehr nützlich sein wird: eine I a-Frustrationstoleranz. Dann ist es egal, ob er zum hundetsten Mal den Raum JK 134/4 b nicht findet, drei Stunden vor einem Dozentensprechzimmer warten muss, zum dritten Mal in Folge ein Referat vom Blatt abliest oder von der hübschen Sitznachbarin ignoriert wird. Aber dann ist der Ersti auch schon gar kein Ersti mehr, sondern ein ganz normaler Studi.
CHRISTA STORM
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