: Geschichtsschreibung 2000
Frank Castorf operiert in seiner Tennessee-Williams-Bearbeitung „Endstation Amerika“ an der Volksbühne am offenen Arbeiterglück. Kapitalismus und Depression werden im Homevideo versöhnt. Denn alles kann man filmen. Guck mal!
Am 30. November 1947, vier Tage vor der Uraufführung seines Dramas „A Streetcar Named Desire“, veröffentlichte Tennessee Williams einen Essay in der New York Times, der dem Bösen einen Namen gibt: Erfolg. Der Erfolg seiner 1944 entstandenen „Glass Menagerie“ hat ihn zum emotionalen und künstlerischen Krüppel gemacht, weiß der 33-Jährige. Doch „On A Streetcar Named Success“, wie ein pfiffiger Redakteur den Artikel getitelt hatte, wäre kein echter Essay, wenn Williams das Muster seiner Depression nicht verallgemeinert hätte. „Nicht Entbehrung, sondern Luxus ist der Wolf vor der Tür“, schreibt der Sohn eines Handelsvertreters; der menschliche Organismus sei für den tagtäglichen Überlebenskampf geschaffen, und sobald dieser wegfalle, gäbe es nichts als Leere, Hohlheit, „the catastrophe of success!“
„Das individuelle Leben ist eine serialisierte kapitalistische Minikrise, ein Desaster, das deinen Namen trägt“, wird Brian Massumi im Produktionsbegleitbuch zu „Endstation. Sehnsucht.“ zitiert. In Salzburg durfte Castorfs Bearbeitung des Dramas noch unter diesem Titel aufgeführt werden; in Berlin musste die Inszenierung nach Eingreifen der amerikanischen Rechteinhaber am Freitag als „Endstation Amerika. Eine Bearbeitung von Frank Castorf von Endstation Sehnsucht – A Streetcar Named Desire von Tennessee Williams“ Premiere feiern. An der University of the South, Sewanee, Tennessee, gehen die Dinge offensichtlich noch ihren geregelten kapitalistischen Gang. Dass Marlon Brando und Vivien Leigh nicht mehr als Stanley Kowalski und Blanche DuBois auf der Bühne stehen können, sieht man ein, alles weitere soll aber doch wie spätestens 1951 aussehen.
Die Situation ist dann folgende: Stella, ein hübsches Mädchen aus gutem Hause, hat den primitiven, sexy polnischen Einwanderer Stanley geheiratet und lebt glücklich schwanger mit ihm in New Orleans. Bis ihre Schwester Blanche kommt, die ihre bessere Herkunft wie eine elegante Walze mit sich trägt und das schlichte, derbe, traute Heim zerstört, indem sie Stella einzureden sucht, dass sie für Besseres geschaffen sei. Stanley hasst Blanche umgehend.
Aus verletzter Eitelkeit forscht er in ihrer jüngsten Vergangenheit, und siehe da: Die Prinzessin ist eine mittellose Alkoholikerin, die wegen eines Verhältnisses mit einem ihrer minderjährigen Schüler von der Schule geschmissen wurde. Enthüllung, Zusammenbruch, Katastrophe. Die Konflikte für den Puritaner: Südstaatentochter liebt Polacken wegen gutem Sex! Südstaatenschwester trägt Anstand nur als eiserne Maske und muss zu Grunde gehen!
Castorf interessiert das wenig. „Kapitalismus und Depression“ heißt ein aktueller Forschungszweig der Volksbühne, und unter diesem Aspekt operiert er auch das Arbeiterglück. Bert Neumann hat eine Art O-Bild-Proleten-Shack gebaut: Da ist das Ehebett unter gemusterter Tapete, die Wohnküche als getäfelter Partykeller und ein Bad mit Livekamera, sodass im Fernsehen bei Bedarf immer Softporno laufen kann. „It's a perfect day“ teilt uns Matthias Matschke als Nachbar Steve gleich zu Beginn mit. Das hat er von Lou Reed gelernt. Stanley – in der Henry-Hübchen-Version ein Bierbauch in Stretchjeans – hat mit Lech Walesa Lieder für die Solidarität geschmettert. Heute wirbt er im Bärenkostüm für Kaugummis. Mehr Animalisches ist nicht. Die Männer sind brutale Weicheier – mit Ausnahme von Berhard Schütz, dessen Mitch ein mutterfixiertes Weichei ist – korrumpiert von der Bequemlichkeit.
Stella – Kathrin Angerer: „Uii!“ – und Nachbarin Eunice – Brigitte Cuvelier: „Oui!“, sind ordinäre Tussen, die Girlie sein bis 40 proben. Blanche (Silvia Rieger) hat zwar ein Hartschalenkoffer-Entrée, wird aber ansonsten nicht recht als Gegenstück zu den beiden aufgebaut – wie überhaupt alle Figuren in Hysterie und Zerstreuung vereint scheinen. Männer pokern, Frauen sehen fern, Sex und Streit hat man gemeinsam. Klassenunterschiede und Klassenkampf wurden zu Gunsten des Homevideos aufgelöst. Duschen, Pissen, erste Wehen, kann man alles filmen. Guck mal! Geschichtsschreibung 2000.
Die Enthüllung von Blanches Lügengebäude läuft bruchstückhaft und mehrsprachig auf einem LED-Band über der Bühne wie eine News am New Yorker Time Square. Alles, inklusive Skandal und Leere, kommt in konsumierbaren Häppchen. So wird an der Volksbühne nicht Blanche wahnsinnig, sondern die ganze Bühne abgekippt zu „Bye bye, Miss American Pie“. Und der Fernseher läuft. The revolution will not be televised. Kapitalistische Depression ununterbrochen. CHRISTIANE KÜHL
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