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Kühlbox mit Hostessenlächeln

Das Ventil wird geöffnet. Gas entweicht. Die Zuschauer hüsteln. Mit „Tokyo Subway“ nach Dokumenten von Haruki Murakami gelang Dirk Cieslack in den Sophiensälen ein großartiges Stück über den Giftgasanschlag im März 1995

Haruki Murakami ist ein wirkungsmächtiger Mann in der deutschen Kultur. Erst ließ eine schlecht übersetzte Stelle seines Buches „Gefährliche Geliebte“ im Literatur-TÜV von Marcel Reich-Ranicki versteckte Friktionen offen ausbrechen, was bekanntlich zur Trennung von Sigrid Löffler und zur Inthronisation von Iris Radisch führte. Jetzt sorgt ein anderes Werk des japanischen Autors dafür, dass ein in den letzten Jahren von Theatersubventionen weitgehend ausgenommener Regisseur sich mit einem Paukenschlag zurückmeldet.

Mit der Premiere von „Tokyo Subway“ in den Sophiensälen ist Dirk Cieslak die atemberaubende Synthese seiner bewährten neorealistischen Form mit intensivem Inhalt gelungen. Endlich, möchte man sagen, denn bislang waren die Arbeiten von Cieslaks Gruppe Lubricat eher formale Experimente, denen noch vor Ende der Inszenierung der Atem ausging. Nicht so „Tokyo Subway“. Das Stück beruht auf Interviews, die Murakami mit Überlebenden des Giftgasanschlags auf die Tokioter U-Bahn im Jahre 1995 führte. Tod ist in diesen Texten kodiert: Größenwahn, Leid und Katastrophe, aber auch das ameisenhafte Funktionieren der japanischen Gesellschaft. Frank Janssen schuf daraus eine überzeugende Theaterfassung.

Cieslak verwandelt den Festsaal der Sophiensäle in eine Kühlbox. Die Spielfläche besteht aus einem weiß glänzenden Rechteck, dahinter eine halb transparente Wand aus Plastiktüten. Die Zuschauertribüne mit ihren hellweißen Plastikstühlen ist eine gefrorene Meereswoge. Davor eine Frau in einem weinroten Kunststoffkostüm. Mit routiniertem Hostessenlächeln fragt Marion von Hassel (Miriam Fiordeponti) das Publikum nach seinem Anreiseweg. Fahrrad, Auto, U-Bahn? Zehn Schauspieler betreten die Bühne, verteilen sich wie Fahrgäste auf einem Bahnsteig. Die Kühlbox wird U-Bahn-Station. Die Fahrgäste sind Überlebende, die schildern, wie das Gas ausströmte, wie es roch. „Etwas süßlich. Kein Geruch, den man gleich nicht mag.“

Die Überlebenden berichten, wie die Wirkung des Gases ihnen die Erinnerung raubte, wie sie sie mühsam wiedergewannen. Unmerklich wird die U-Bahn-Station zum Fernsehstudio, in dem die Moderatorin eine Psychologin und Opfer befragt. Die Praxis der Psychologin entsteht, der Sprechraum der Selbsterfahrungsgruppe, ein Tribunal. Das Publikum mittendrin. Eine Gasflasche kommt auf die Bühne. Gas entweicht. Man riecht es. Einige hüsteln. Klar, die Konventionen des Theaters gelten: Zuschauer werden nicht verletzt. Aber eine subtile Ahnung jener Angst, die die Fahrgäste der Tokioter U-Bahn am 20. März 1995 gespürt haben müssen, kommt den Rücken hochgekrochen. Vor allem als Gerald (Godehard Giese), Fahrer eines TV-Teams, das am Unfallort drehte, bevor es sich um die Verletzten kümmerte, gesteht, keine Worte für die Hinterbliebenen finden zu können. Ein Schlüsselmoment, der jeden Zuschauer bis in die Grundfesten erschüttert. Ein Meisterwerk. TOM MUSTROPH

„Tokyo Subway“, bis 22. 10., 21 Uhr, Sophiensäle, Sophienstr. 18, Mitte

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