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„So schlimm wie Rheuma“

Trotz Viagra: Viele Männer mit Potenzstörungen leiden schweigend  ■ Von Heike Dierbach

Wie misst man seelischen Schmerz? Zum Beispiel, in dem man ihn mit körperlichem vergleicht. Der Arzt Jürgen Budde aus Marl in Nordrhein-Westfalen hat Patienten mit Erektionsstörungen diese Brücke gebaut, um zu erfahren, wie sehr sie darunter leiden. Die häufigste Antwort: „Es ist so schlimm wie Rheuma“, das heißt: wie permanente, periodisch stärker werdende Schmerzen am ganzen Körper. Das bekannteste Gegenmittel, Viagra, ist seit zwei Jahren auf dem deutschen Markt. Gestern zogen der Hersteller, die US-Pharma-Gruppe Pfizer, und Fachleute in Hamburg Bilanz.

Dabei ging es allerdings vorwiegend gar nicht um die blaue Pille, mit der derzeit 70 Prozent aller Patienten mit Erektionsstörungen behandelt werden. Denn die Schwierigkeit, so Uwe Hartmann von der Medizinischen Hochschule Hannover, liegt nach wie vor darin, die Männer überhaupt dazu zu bewegen, zum Arzt zu gehen. Zwar werden heute 700.000 Männer in Deutschland mit Viagra behandelt – drei bis vier Mal mehr als vorher mit anderen Mitteln. Aber Umfragen zufolge suchen 1,3 Millionen weitere Betroffene immer noch keine Hilfe. Andere Schätzungen gehen sogar davon aus, dass 40 Prozent der über 40-Jährigen Potenzprobleme haben.

Warum schweigen so viele? Die meisten, weiß Budde, weil sie sich schämen. Andere glauben, Erektionsprobleme seien eine normale Alterserscheinung – oder ihr Prob-lem sei nicht wichtig genug, um sich behandeln zu lassen. Und die Ärzte? „Viele sind ebenso unsicher wie ihre Patienten“, sagt Budde. Zudem fehle „in unserem beartungsfeindlichen Gesundheitssys-tem“ oft die Zeit für ein vertrauensvolles Gespräch. Dabei müssten Fragen nach Erektionsstörungen bei denen, die dafür besonders anfällig sind – Patienten mit Diabetes, Bluthochdruck oder Erkrankungen der Herzkranzgefäße – eigentlich zur Standard-Untersuchung gehören.

Etwa 60 Prozent der Potenzstörungen haben körperliche, 40 Prozent psychische Ursachen, erläutert der Hamburger Urologe Hartmut Porst. Die Mehrheit seiner Patienten komme auf Drängen der Partnerin in die Praxis. Die Frau müsse von Anfang an in die Behandlungen einbezogen werden, denn „bei einem Sexualproblem gibt es keinen unbeteiligten Partner“, ergänzt die Psychologin Kristina Heiser von der Medizinischen Hochschule Hannover: „Viele Partnerinnen leiden ebenso wie ihre Männer, fühlen sich abgewiesen oder ungeliebt oder geben sich selbst die Schuld.“ Dramatisch wird es, wenn die PartnerInnen miteinander nicht über das Problem sprechen. Budde weiß von einem Patienten zu berichten, dessen Frau zehn Jahre lang nichts von seiner Erektionsstörung wuss-te. Dass er keinen Sex „wollte“, erklärte sie sich damit, dass er sie betrüge.

Aufgrund dieser Erfahrungen wollen die Fachleute durch Fortbildungen das Bewusstsein in Deutschland für etwas etablieren, dessen Wichtigkeit in der USA längst erkannt worden sei: „Sexuelle Gesundheit“.

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