: Nackte Tatsachen im sensiblen Bereich
Als Provokation gegen die Yuppies in den vielen schicken Kneipen in Prenzlauer Berg flanieren zwei junge Männer im Suff nackt durch die Straße. Ihr Pech: Sie kamen dabei unbedacht an einer Synagoge vorbei
von PLUTONIA PLARRE
Die Sonne schien warm und golden. Die Luft war mild. Der Samstag war wie geschaffen für eine Fahrradtour durch Berlin. Trödelmärkte durchkämmen, ein PDS-Fest im Mauerpark besuchen, ein paar Bierchen trinken. „Was erleben und Spaß haben“ wollten der 29-jährige Schlosser Mario Z. und der 25-jährige Bauhelfer Steffen H., als sie sich am Morgen des 30. September auf ihre Räder schwangen. Dass eine im Suff geborene Flitzeraktion als antisemitischer Überfall und sie beide als Rechtsextremisten in die Berliner Zeitungen eingehen würden, haben die beiden Männer nicht geahnt.
Der Vorfall hatte sich wenige Tage vor dem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge und vor den Steinwürfen auf die Fenster einer Synagoge in Berlin-Kreuzberg ereignet. Am drastischsten malte die Boulevard-Zeitung Berliner Kurier die Geschichte aus: Unter der Überschrift „Skinheads stürmten Synagoge “ wurde berichtet, dass am Samstag gegen 20 Uhr plötzlich zwei Neonazis vor der Synagoge in der Rykestraße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg aufgetaucht seien. Die beiden Männer hätten Springerstiefel getragen, seien ansonsten aber völlig nackt gewesen. Die Skinheads hätten sich durch „eine Wand“ von drei Wachpolizisten geprügelt. Einem der beiden Männer sei es gelungen, bis zu der Synagoge vorzudringen. Erst ein Sicherheitsbediensteter der Jüdischen Gemeinde habe den Angreifer mit Pfefferspray außer Gefecht setzen können.
Diese Darstellung deckt sich im Wesentlichen mit den Angaben der Jüdischen Gemeinde nach dem Vorfall. Der Vorsitzende der Gemeinde, Andreas Nachama, hatte in den ersten Stellungnahmen von einem Akt des Vandalismus und einem antisemitisch-rechtsextremistischen Angriff gesprochen.
Ganz anders die Polizei. Für die hatte bereits eine Stunde nach dem Vorfall festgestanden, dass es keine Anhaltspunkte für einen antisemitischen oder rechtsextremistischen Tathintergrund gebe.
Mario Z. ist 1,74 Meter groß, hat streichholzkurze Haare und sagt von sich selbst, er sei völlig unpolitisch. Dass er „Neonazi“ genannt wird, empfindet er als üble Beleidigung. „Wenn zu mir einer Punk sagen würde, wäre mir das egal.“ Steffen H., der nicht zum Interview bereit war, wird von seinen Bekannten als 1,94 Meter großer „Packer“ beschrieben. Die Haare trägt er millimeterkurz. „Vom Klischee her sieht er aus wie ein Skinhead, aber er ist kein Rechtsradikaler sondern einer, der sich mit Nazis anlegt“, verlautete aus einer Kneipe in der Rykestraße, die sich in unmittelbarer Nähe der Synagoge befindet und die sich zu den letzten linken Kneipen in dem von Yuppies überrannten Kiez zählt. In ihr verkehren Mario Z. und Steffen H. gelegentlich. „Wenn Steffen ein Fascho wäre, wäre er hier längst rausgeflogen“, heißt es. Steffen H. trage eine Jacke mit einem Emblem „gegen Nazis“ und soll vor den letzten Wahlen in Brandenburg Wahlplakate von rechten Partein abgerissen haben.
Mario Z. und Steffen H. sind gebürtige Sachsen. Sie kennen sich von Kindesbeinen. Auch in Berlin, wo sie seit einigen Jahren leben, haben sie zusammen schon so manche Sauftour absolviert. So war es auch an dem besagten 30. September. Hier ein Bier, dort ein Bier. Als sie am frühen Abend schließlich in der Kneipe in der Rykestraße strandeten, hatten sie 20 bis 30 Bier und eine Flasche Wein intus, sagt Mario Z.
Die Kneipe war noch ganz leer. In den schicken Gartenlokalen an der Rykestraße Ecke Wasserturm war bei dem herrlichen, spätsommerlichen Wetter dagegen der Teufel los. „Uns war langweilig“, erzählt Mario Z. „Ich weiß nicht, wer von uns auf die verrückte Idee gekommen ist, die Sachen auszuziehen und nackt ein Stück die Straße Richtung Wasserturm runterzulaufen. Wir waren schon sehr sehr angetrunken.“ Als Grund für die Aktion könne er sich „bloß vorstellen“, dass man die Yuppies in den Schickimicki-Lokalen ärgern wollte. „Das Getue von den Leuten gefällt mir nicht. Die empfinden sich als etwas Besseres“. Sachen runter, Schuhe aus. Die Klamotten blieben vor der Kneipe liegen.
Weit kamen die Männer im Adamskostüm allerdings nicht. Hundert Meter weiter auf der anderen Straßenseite ist die Synagoge. Sie befindet sich in einem Innenhof, der durch zwei schmiedeeiserne Tore zur Straße abgegrenzt ist. Der vor der roten Backsteinmauer befindliche Bürgersteig und ein Teil der Straße ist durch Poller markiert, als Sicherheitsbereich. „Wir sind auf der Mitte der Fahrbahn gelaufen. An die Synagoge haben wir überhaupt nicht gedacht. Wir waren noch nicht mal an die Poller heran, da war die Polizei schon da“, erinnert sich Mario Z. Die Beamten hätten sie aufgefordert, sich zu entfernen und sich zu bekleiden. „Komm, wir ziehen uns wieder an“, will Mario Z. zu Steffen H. gesagt haben. Doch der Freund, der noch viel betrunkener als er selbst gewesen sei, habe nicht reagiert.
Mario Z. rannte zur Kneipe zurück, schlüpfte in seine lange Hose, das blaue T-Shirt mit dem FDJ-Enblem und die schwarzen Fila-Turnschuhe, die er an diesem Tag trug, schnappte sich die Klamotten und Doc-Martins-Schuhe seines Freundes und rannte zurück. „Steffen saß mit blutendem Gesicht auf der Straße, bloß mit einer Decke umgehängt. Er war vollkommen ausgeknockt.“ Was in der Zwischenzeit passiert ist, hat Mario Z. nicht gesehen. Er ist sich aber sicher: „Steffen saß definitiv auf der Straße. Wir waren nicht in dem Sicherheitsbereich.“
Die Schilderung von Mario Z. deckt sich in großen Teilen mit den Angaben der Polizei. In der Zeit als Mario Z. die Sachen holte, habe Steffen H. einem Wachpolizisten, der ihn am Weitergehen zu hindern versuchte, einen Faustschlag verpasst. Hinzueilende Sicherheitskräfte der Synagoge hätten Steffen H. schließlich mit Pfefferspray und einem Schlag zu Boden gestreckt. Nach Polizeiangaben hat sich das Ganze weit entfernt von den Toren zum Innenhof abgespielt. Entgegen der Mediendarstellung seien die beiden Männer auch vollkommen nackt gewesen und hätten weder Springerstiefel noch sonstiges Schuhwerk getragen.
Dass die Polizei schon nach einer Stunde zu wissen meinte, dass es keinen antisemitischen Tathintergrund gebe, bringt den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Nachama noch heute in Wallung. Auch andere gesellschaftliche Kräfte sind der Meinung, die Polizei – nicht nur in Berlin – tue Übergriffe allzu schnell als unpolitisch ab. Nachama verweist auf die lange Kette unaufgeklärter antisemitischer Vorfälle in Berlin, vom Bombenanschlag auf das Grab des früheren Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, bis zur Schändung von 103 Grabmalen auf dem Friedhof in Weißensee. „Jeder Vorfall in der letzten Zeit, zu dem kein Bekennerschreiben aufgetaucht ist, wird von der Polizei als Zufallsprodukt hingestellt“, empört sich Nachama.
Die Klage des Gemeindevorsitzenden stieß bei dem Berliner Innensenator Eckart Werthebach (CDU) auf offene Ohren. Bei einer Sitzung des Innenausschusses verkündete Werthebach, er habe die Polizei angewiesen, bei vergleichbaren Vorkommnissen vorsichtiger mit einer Erstbewertung zu sein. Er sei mit Nachama übereingekommen, dass man zunächst die Ermittlungen abwarten wolle, „um sicher diagnostizieren zu können“.
Im konkreten Fall kann die Polizei von Glück sprechen, dass sie mit ihrer Ersteinschätzung der Täter richtig lag. Denn eine eingehende Vernehmung geschweige denn eine Hausdurchsuchung hat im Anschluss an die Tat nicht stattgefunden. Der ausgeknockte Steffen H. wurde von der Polizei ins Krankenhaus gebracht.
Mario Z. musste in einem Polizeiwagen auf die Vernehmung durch die Kripo warten. „Es dauerte über eine Stunde, bis endlich ein Beamter kam“, sagt Mario Z. „Gleich wo der mich gesehen hat, hat der abgewunken und gelacht. Er hat gesagt, dass mit dem Rechtsradikalismus kann man sich wohl abschminken. Er habe noch nie einen Rechten im FDJ-T-Shirt gesehen.“ Der Beamte, so Mario Z. weiter, habe ihn nicht groß befragt, sondern nur wissen wollen, was er und Steffen H. sich bei der Aktion gedacht hätten. „Ich habe geantwortet, dass das auf keinen Fall was mit der Synagoge zu tun hatte. Nach wenigen Minuten ist er wieder weggefahren.“
Nun könnte man annehmen, die Polizei habe einen szenekundigen Staatsschutzbeamten zum Tatort geschickt, der nach wenigen Minuten einzuschätzen vermag, ob er einen Rechten vor sich hat. Fehlanzeige. Der Staatsschutz war zwar informiert, hatte den Fall aber gleich an die Kripo der örtlichen Direktion abgeben. Eine eingehende Vernehmung der beiden Männer hat erst Tage später, am 5. und 6. Oktober stattgefunden. Die Vermutung liegt nahe, dass es nur deshalb dazu kam, weil der Innensenator am 4. Oktober auf Drängen von Nachama von der Polizei einen Bericht zu dem Vorfall verlangt hatte. Die Polizei bestreitet einen Zusammenhang.
Aber auch die Jüdische Gemeinde muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie mit ihrer Erstbewertung nicht weit über das Ziel hinausgeschossen ist. Andreas Nachama weist dies weit von sich. Er habe gegenüber der Presse lediglich den übereinstimmenden Augenzeugenbericht von Gemeindeangehörigen wiedergeben. Diesem zufolge seien die Männer nackt gewesen, hätten eine Glatze gehabt, Stiefel getragen und seien tätowiert gewesen. Wenn zwei so aussehende Menschen in einer derartig aufgeheizten Situation wie der jetzigen vor einer Synagoge erschienen, sei nicht davon auszugehen, dass sie zum Beten gekommen seien.
Die Ankündigung von Werthebach, in Zukunft nicht gleich nach jedem Vorfall eine Bewertung abzugeben, bezieht er nur auf die Polizei. „Die Jüdische Gemeinde wird die Dinge weiterhin so beim Namen nennen, wie sie sie empfindet“.
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