: Dissens wagen
Die Vielfalt der Medien nimmt zu, die Vielfalt der Meinungen vergeht. Die Leser der taz durchschauen den Anpassungsdruck an einen eigenschaftslosen Modernismus
von HERMANN SCHEER
Der neoliberale Geist ist aus der Flasche. Er erhebt Anspruch auf allgemeine Gültigkeit und begehrt, nicht mehr in Frage gestellt zu werden. Er vernebelt nahezu alle Köpfe und erklärt Andersdenkende für abseitig. Tatsächlich hat sich ein merkwürdiger Meinungskonformismus entwickelt, der den viel gerühmten Individualismus ad absurdum führt. Im Prinzip gebe es – so das hartnäckige Vorurteil – dazu „keine Alternative“. Fast alle verpflichten sich auf Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, die Erhaltung der Umwelt, auf „Maastricht“ und Globalisierung, die uferlose Nato- oder EU-Erweiterung, die WTO, die unaufhaltsame Transnationalisierung der Unternehmen und ihre Konzentration, auf Gentechnologie und Entstaatlichung – als wären all diese Ziele wie selbstverständlich miteinander vereinbar und durch mehr Markt erreichbar. Der politische Diskurs erscheint so, als redeten alle nur noch vom Wetter.
Meinungen können sich so sehr verselbständigen, dass sie in der Masse ein Eigenleben führen, selbst dann noch, wenn sich ihre Urheber längst davon distanziert haben. Ein Beispiel ist die neoliberalistische Ideologie, deren prominentester Verkünder der amerikanische Philosoph Robert Nozick 1978 mit seinem Buch „Anarchie, Staat, Utopia“ war. Darin wird die Vermarktung und Kommerzialisierung der öffentlichen Funktionen gepriesen. Derartige Preisungen sind mittlerweile fast schon zur Monotheorie und Monopraxis geworden – mit vielfältigen desaströsen Konsequenzen für das Gefüge von Staat und Gesellschaft, (Markt-)Wirtschaft und Umwelt. Nozick hat sich deshalb 1993 mit seinem Buch „Vom richtigen, guten und glücklichen Leben“ davon verabschiedet. Seine Epigonen hingegen drehen die Schraube immer weiter. Ein anderes Beispiel ist der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ (1992). Auch Fukuyama ist inzwischen ernüchtert über die einseitigen Folgen seiner eigenen Thesen. Eine Ideologie wird eben nicht dadurch ideologiefrei, dass sie zum Allgemeingut wird.
Alle müssen optimistisch sein. Warnungen vor Fehlentwicklungen erscheinen als hinterwäldlerische Bedenkenträgerei. Hässliche Folgen gelten als unvermeidbar, das Reden darüber als lästig. Relevante Unterschiede bestehen nur noch hinsichtlich des Outfits und der individuellen Kompetenz. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, tönte Wilhelm II. 1914. Das aktuelle Credo kennt keine Richtungen mehr, sondern nur noch Personen. Dem entspricht eine Metamorphose der Medienlandschaft. Die Vielfalt der Medien nimmt zu, die Vielfalt der Meinungen vergeht. In einer solchen Atmosphäre liegt es nahe, dass auch der taz empfohlen wird, in diesen Konsenschor einzustimmen und ihr einst löbliches Anderssein ad acta zu legen.
Dabei ist der Bedarf nach Entzifferung gängiger Meinungen und dem Benennen verdrängter Sachverhalte größer denn je. Dies zeigt sich schon daran, dass in allen westlichen Demokratien die Wahlenthaltungen rapide zugenommen haben – nicht wegen eines sich verbreitenden Desinteresses, sondern weil sich immer mehr Leute mit ihren Meinungen im Politikangebot nicht mehr wiederfinden: Parteien werden einander immer ähnlicher – und Medien ebenso. Es ist die Entpolitisierung durch die Politik und politische Medien selbst, die mehr als anderes Schuld ist an der politischen Enthaltsamkeit. Im Unterbewusstsein, aufsteigend ins Bewusstsein, wird jedoch schon längst wahrgenommen, dass Grundlegendes nicht stimmt. Wenn sich die Widersprüche zwischen modernen Verheißungen und gesellschaftlicher Realität häufen, während zugleich der Konsens in Generalfragen beschworen wird, dann dominieren Trug und Selbstbetrug.
Diese Widersprüche unverblümt zu artikulieren ist die originäre Rolle der taz; keine gestrige, sondern eine elementare Zukunftsrolle. Dies erfordert Mut und Widerständigkeit gegen den Anpassungsdruck. Und es erfordert ein selbständiges konstruktives Denken: Politikentwürfe für eine umfassende geistige und praktische Erneuerung, die humanen Werten, demokratischen Gestaltungsprinzipien und den friedenspolitischen sowie sozial- und umweltwirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung trägt.
Viele, die dem Gedankengut der Alten und der Neuen Linken im Gefolge von 1968 oder der Öko-Bewegung anhingen, vertreten jetzt einen in der Substanz eigenschaftslosen Modernismus oder einen in der Substanz gemeingefährlichen Neoliberalismus, der zu einem neuartigen Fundamentalismus verkommen ist. Unerklärlich ist das nicht: Natürlich waren nicht wenige Versatzstücke alternativer Politikentwürfe stets fragwürdig oder sind fragwürdig geworden; natürlich argumentieren viele auf ausgetrampelten Pfaden und erscheinen ihre Visionen verschlissen. Nicht wenige kritische Helden der 70er- und 80er-Jahre sind müde geworden oder wirken ermüdend.
Ökologische Bewahrung durch Verzicht – das wirkt vergeblich und als Spielverderberei in einer Gesellschaft, die auf Schritt und Tritt mit werbepsychologisch aufbereiteten Konsum- und Spaßanreizen konfrontiert ist. Bloße Kritik am Sozialabbau, an Zuwanderungsbeschränkungen oder an Privatisierungen genügt nicht mehr. Die Finanzkrise des Staates ist ebenso offenkundig, wie Staatsfunktionen nicht mehr überzeugend wahrgenommen werden. Kritik an der wirtschaftlichen Globalisierung wirkt nur noch larmoyant. Kein Wunder, wenn sich viele in die vermeintliche Alternativlosigkeit fügen und die Seiten wechseln – von der Sitzblockade in Mutlangen ins Etablissement der Nato, vom Öko-Fundi zum Atommanager, von der taz zur Welt, von Marx zu Murks.
„Wenn alle einstimmig singen, ist der Text ohne Bedeutung“, lautet ein Aphorismus von Stanislaw Lec. Wenn alle Zeitungen einstimmig schreiben, hat die einzelne keine Bedeutung mehr. Wer bestehen will, muss sich dem Sog des Meinungskonsenses entziehen. Es gibt noch Journalisten und Zeitungen, die das versuchen, aber es werden schon merklich weniger.
Für keine andere Tageszeitung ist die Kultur des Misstrauens so sehr Bedingung ihrer Existenz wie für die taz. Aber auch bei ihr sind Ermüdungserscheinungen spürbar. Über viele politische Schlüsselereignisse wurde in der taz noch in jüngster Zeit kritischer, zumindest ausführlicher oder öfter berichtet – etwa die Informationen über den Kosovokrieg, über Bourdieus soziologische Provokationen, über die Chancen durch Erneuerbare Energien. Die viel sagenden Ironien – „Möllemann verfehlt absolute Mehrheit“, „Holzmann saniert Schröder“ – findet man nur hier. Aber die keineswegs provinzlerischen, sondern demokratiebewussten Motive des dänischen Neins zu Maastricht oder Euro hat auch die taz klein gespielt. Sie war keineswegs vorn bei der Kritik an der demokratische Verfassungen beugenden WTO oder an den ins Absurde gehenden neuen Wettbewerbsregeln der EU. Und das berüchtigte MAI-Abkommen wurde von einigen Europaabgeordneten, nicht von der taz entlarvt.
Die taz entstand als Gegenöffentlichkeit aus den neuen sozialen Bewegungen des letzten Jahrhundertquartals. Seit diese zerbröselt sind und sich verlaufen haben, muss sie ihre Hefe mehr aus eigener Kraft produzieren. Sie muss offenes Ohr und Ort der neuen theoretischen wie praktischen Alternativen sein, solchen Analysen Raum bieten und Inspiration dafür sein. Die neue Alternative muss nicht gegen Kapitalismus und Marktwirtschaft als solche zielen, gewiss aber auf deren Perversionen. Es gilt, die Entwicklung einer globalen Planwirtschaft durch transnationale Privatkonzerne anzuprangern und die Degradierung der Regierungen zu deren Kolonialverwaltungen nachzuweisen; die blindwütigen Versuche aufzuzeigen, die Makroprobleme der Welt mit mikroökonomischen Karos lösen zu wollen; und über die Gleichschaltung der Weltökonomie mit akribisch durchgreifenden Wettbewerbskontrollen aufzuklären. Die umweltzerstörende Unterordnung der Naturgesetze unter Marktgesetze muss sie konsequent in den Vordergrund stellen.
Es gibt viele Themen, mit denen sich die taz auseinander setzen sollte: Die völkerrechtswidrige Unterordnung internationaler Umwelt- und Sozialabkommen unter die WTO-Bestimmungen, die damit de facto eine demokratisch nie hinterfragte Weltverfassung bilden. Die kulturellen Grenzen einer beliebigen EU-Erweiterung gar bis zur Ukraine. Die Gefahren einer Nato-Ausdehnung bis in den Kaukasus. Die Gefahr von Ressourcenkriegen. Die globale Wettbewerbsverzerrung durch die Befreiung des Luft- und Schiffsverkehrs von Treibstoffsteuern. Der Wahnwitz der Expansion des Luftverkehrs trotz des sich jährlich weitenden Ozonlochs. Die Schleifung des demokratischen Verfassungsstaats, den EU-Zentralismus und damit die Gefährdung des wichtigsten zivilisatorischen Fortschritts der Geschichte. Die Enteignung der Menschheit durch Genpatentierung. Die Korrumpierung der Wissenschaft, das Honorar für Konzernstudien fest im Blick.
Bisher sind dies alles nahezu unbearbeitete Themen, noch mehr die Alternativen dazu: die Gleichberechtigung von UN-Umweltabkommen mit dem WTO-Vertrag und jene des EU-Primärrechts Umweltschutz mit dem Primärrecht Wettbewerb. Die alternative Tagesordnung für Weltklimakonferenzen: globale Mobilisierung Erneuerbarer Energien statt Emissionshandel. Der Abbau unsozialer und antiökologischer Subventionen statt üblicher finanzpolitischer Kahlschläge. Ein EU-Modell, das tatsächlich subsidiär und föderal konzipiert wäre. Grünhelme im internationalen Einsatz statt Eingreiftruppen. Die Reregionalisierung von Wirtschaftsstrukturen statt Renationalisierung. Die Entmischung von Staatskompetenzen und die neue Dezentralisierung politischer Entscheidungen. Die Repolitisierung demokratischer Politik.
Diese Themen sind unerschöpflich, spannend, vielfach neu – und sie sind vor allem: brisant. Wer soll auf das alles den Scheinwerfer richten, wenn nicht die freie und unabhängige taz?
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