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Tim Koehne: Ein ganz normaler junger Mann

■ Wäre da nicht die Silvesternacht gewesen / Da wurde Koehne auf zwei Polizeiwachen zusammengeschlagen / Jetzt sucht der Erstsemester der Chemie nach mehr Abstand

Die Feier zu seinem 21. Geburtstag, die müsse er immer noch nachholen, erzählt Tim Koehne. Den 1. Januar 2000, Milleniums- und Geburtstagsnacht zugleich, wird Koehne sein Leben lang nicht vergessen. Am ersten Morgen des Jahres fand sich Koehne im Krankenhaus wieder – auf zwei Polizeiwachen war er von Beamten zusammengeschlagen worden, nachdem er auf dem Domshof wegen einer Kabbelei unter Jugendlichen festgenommen worden war.

Das alles ist nun mehr als zehn Monate her. Der Fall löste einen handfesten Skandal in Bremen aus. Die Innenrevision der Polizei griff den Fall auf, maß den Schilderungen von Koehne Glaubwürdigkeit zu. Auch die Staatsanwaltschaft recherchierte monatelang gegen mehr als ein dutzend Beamte – und stellte letztendlich die Ermittlungen vor einigen Wochen ein. Nur zwei Schläge konnten bestimmten Beamten zugeordnet werden – einer auf Tims Hüfte, einer in sein Gesicht. Die beiden Beamten kommen mit geringer Geldstrafe davon.

Äußerlich sieht man Tim Koehne nichts mehr an. Die Blutergüsse sind verheilt, das geplatzte Trommelfell wieder zugewachsen. Eine kleine Narbe am Kinn ist äußerlich alles, was bleibt. Innerlich freilich hat das alles Einiges ausgelöst, Wunden zugefügt, die nicht so schnell verheilen. „Wut“ empfindet er jedesmal, wenn er Polizisten auf der Straße sieht, gibt Koehne zu. Angst, dass er noch einmal Opfer von Polizeigewalt wird – nein, dass schrecke ihn wenig, sagt er. Sein Vertrauen in den Rechtsstaat freilich „ist ziemlich erschüttert“. Wo er kann, macht er einen weiten Bogen um potenziellen Ärger – „auch, wenn die Situation noch meilenweit davon entfernt ist“.

Einmal, im Sommer, hat das nicht geklappt. Diskobesuch mit Freunden, danach beim Schlendern am Rembertiring: Ein Zusammengeschlagener liegt im Busch, wimmert nur noch. Der Freund ruft per Handy die Polizei und den Krankenwagen. Blaulicht. Ein Beamter fragt nach „Personalien“.

„Tim Koehne“, sagt Tim Koehne. „Und da hat der auf einmal von seinem Block den Blick gehoben und mich ganz komisch angeschaut. Es war klar: Der hat meinen Namen erkannt.“ Kein Wunder: Monatelang war der Fall in der Presse abgehandelt worden – Koehne als Ankläger gegen die Polizei. Einen Moment lang hatte Koehne ein mulmiges Gefühl. Der Beamte drehte sich weg und interviewte den Freund.

Dabei ist Koehne Interviews inzwischen gewöhnt – auch wenn es immer noch eine Weile dauert, bevor er eine körperliche Unrast ablegt und gelassen Rauchringe in die Luft bläst. „Ziemlich angenervt“ sei er immer wieder gewesen, wenn er seinen Namen in der Zeitung gelesen habe. Vor allem, weil nicht immer alles stimmte, was da zu lesen war: Einmal hatte er statt 0,1 Gramm Dope „mehrere Gramm“ bei sich gehabt, dann schrieb ein Journalist, er habe sich körperlich gegen die Polizisten gewehrt. Die Zeitung landete in der Ecke.

Auch in der Schule wurde Tim die Fragen der Mitschüler nicht mehr los – nach jedem Artikel in der Zeitung wollte wieder jemand seine Geschichte hören. Die Aufmerksamkeit hat ihn einerseits geehrt, nach einer Weile fing es an zu nerven. Irgendwann hat er die Antworten so routiniert abgespult, „da hätte man auch ein Tonband laufen lassen können“. In der Englischklasse wurde geschlagene 70 Minuten über seinen Fall diskutiert; eine Parallelklasse bekam in Soziologie den Auftrag, den Fall in den Medien zu verfolgen.

Das Abi (Leistungskurse Chemie und Englisch) schaffte Koehne dann im Frühjahr – nicht besonders gut, aber geschafft. Ob die Geschichte die Note beeinträchtigt haben könnte? Eher nicht, räumt Koehne ein – auch wenn für ihn klar ist, dass der Vorgang eine gehörige Portion Durcheinander in sein Leben gebracht hat. Nach dem Abi zog Koehne von zu Hause aus, bewarb sich um einen Studienplatz an der Uni Bremen. Zivildienst steht nicht an. Koehne ist ausgemustert worden: Asthma, krummer Rücken. Statt dessen nahm er erst einmal einen Job als Betreuer eines Querschnittsgelähmten an – das macht er bis heute. Vor einigen Wochen kam die Zusage: Koehne hat einen Studienplatz im Fachbereich Chemie. Seit wenigen Tagen studiert er. An die Anonymität der Universität muss er sich erst noch gewöhnen. Aber ein paar alte Bekannte aus Schulzeiten hat er schon am ersten Tag getroffen.

Dass die Polizisten jetzt kaum zur Rechenschaft gezogen werden, die ihn misshandelt haben – Koehne kann damit leben. „Es war letzt-endlich nicht viel anders zu erwarten“, gibt er sich realistisch. Auch, wenn noch offen ist, ob Koehne oder die Beamten in die nächste Instanz gehen, ist ihm anzumerken: Er sucht endlich Abstand zu der Milleniums-Nacht. Hey, ich bin ein ganz normaler junger Mann, sagt Tim Koehne indirekt mit jedem seiner Worte. Nur, dass ihn ein Paar Polizisten eines nachts vermöbelt haben. cd

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