: Utopien nach Bedarf
Bei den WOMEX-Konzerten im Haus der Kulturen wurde der Wille zum Pop belohnt. Nächstes Jahr zieht die Weltmusik-Karawane nach Rotterdam
von DANIEL BAX
Hat jemand gesagt, dass Weltmusik nicht sexy ist? Der hat die Rechnung ohne Sawt El Atlas gemacht: professionell flirteten die beiden Sänger der franko-marrokkanischen Band bei ihrem Auftritt am Freitag abend im HKW mit dem Publikum, und sorgten mit geübtem orientalischem Powackeln beim weiblichen Teil für glänzende Augen. Oder auch Värttinä aus Finnland: auch wenn man den vier blonden Frontfrauen der Band eine gewisse Sekretärinnenhaftigkeit nicht absprechen kann – mit ihrem knackig choreografierten Auftritt wurden sie einmal mehr ihrem Ruf als Spice Girls der finnischen Folklore gerecht. Das markante Kieksen der karelischen Volkslieder, die von Värttinä aufgepoppt werden, ist im Grunde das einzig Folkloristische, das von der Band ausgeht.
Solche Weltmusik, die Pop sein will, hatte denn auch die besten Karten beim Konzertpublikum, für das die Weltmusikmesse WOMEX vor allem ein Minifestival ist. Wirkliche Neuentdeckungen waren allerdings selten im Programm, auch Sawt El Atlas und Värttinä etwa haben schon mal in der Stadt gespielt. Und eher traditionell angehauchte Musik, die vom Zuhörer Ruhe und Muße verlangt, hat es eher schwer, im hektischen Messe-Ambiente Gehör zu finden: bei den herausragenden, aber in ihrem Setting fast schon klassisch anmutenden Darbietungen des Istanbul Oriental Ensemble oder der tunesischen Sängerin Sonia M’Barek beeinträchtigte das ständige Kommen und Gehen zwischen den Sälen die Konzentrationsfähigkeit der Zuhörer doch erheblich.
Am Ende war ohnehin alles Party: auch die Messe, die für die professionellen Besucher aus aller Welt vor allem eine große Visitenkartentauschbörse ist. Nicht nur musikalisch, auch bei den kleinen Debatten-Panels am Rande des Messegeschehens prallten dabei allerdings gelegentlich Welten aufeinander: Wer dem Vortrag des baskischen Agit-Dub-Aktivisten Fermin Mugurutza lauschte, der seinen Sound mit dem politischen Überbau der „Verteidigung lokaler Kultur“ versah, und zwei Tage später dann zwei australische Internet-Unternehmer erleben konnte, die mit dem Pathos amerikanischer Fernsehprediger die Möglichkeiten des neuen Mediums priesen, sich in Zukunft über „Music on Demand“ jedes gewünschte Stück per Knopfdruck aufs Handy beamen zu lassen, der konnte nur Staunen, was für unterschiedliche Utopien man mit Weltmusik verbinden kann: Soundtrack der Revolte oder Software für die digitale Revolution.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen