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Madonna der Vorstädte

Die Sängerin, die alle zu hassen lieben, kommt mit der ultimativen „Britney-Spears-Experience“ über die Deutschen

Ein Freund ruft an und will sich verabreden. „Ach, du gehst zu Britney Spears“, sagt er. „Na, dann halt danach. Wie wäre es mit acht Uhr?“ Für ihn ist es völlig klar, dass Veranstaltungen dieser Art am Nachmittag abgehalten werden.

Fakt ist: Das Konzert in der Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer-Halle beginnt um 21 Uhr und ist seit Wochen bis oben hin ausverkauft. Doch wenn von Britney Spears gesprochen wird, dann bestimmen verniedlichende Wortschöpfungen die öffentliche und private Rede. Man sagt Göre, Lolita oder Püppchen; selbst ein harmloses Wort wie „Mädchen“ wirkt in diesem Zusammenhang wie ein Diminutiv. Halten wir uns also weiter an die Fakten: Von ihrem Debütalbum „ ...baby one more time“ verkaufte die 16-jährige Britney Spears allein in den USA 4 Millionen Exemplare, die gleichnamige Single hielt sich über Wochen auf Platz eins der Charts in 19 Ländern. Das zweite Album „oops! ... I did it again“ verkaufte sich in nur drei Monaten 4,5 Millionen Male. Damit ist die heute 18-Jährige the fastest-selling female artist („All Music Guide“) in der Geschichte der Popmusik. Im vergangenen Jahr gewann Britney Spears drei US-Billboard-Awards und vier MTV-Europe-Awards.

Von solchen Zahlen allein lassen sich Pop-Connaisseure natürlich kaum beeindrucken, die alle unveröffentlichten Konzertmitschnitte und Japan-Importe von, sagen wir, Flying Saucer Attack im Schrank stehen haben. Der Kenner des wahren Pop interessiert sich, wenn überhaupt, für die Trash-Aspekte des Phänomens: die angeblichen Silikon-Brüste, die angebliche Jungfräulichkeit, das in der neuen Bravo dokumentierte Bauchnabel-Piercing, welches sich die Künstlerin jüngst beim Urlaub auf Hawaii hat stechen lassen.

Richtig trashig wird es aber erst im Internet, wo sich fast genauso viele Anti-Britney-Homepages finden wie Fan-Websites. Im „Original Britney Hating Webring“ haben sich 140 Sites vereint, alle mit dem Ziel, die Sängerin zu bashen, darunter „Hit Britney one more time“ und „Stop Britney“, was nicht ganz so gut klingt wie „Stoppt Strauß“. Auf der Gegenseite, im „Britney Paradise“ etwa, werden die Silikon-Spekulationen in Zweifel gezogen, es gibt „interviews and videos of the possibly silicone-enhanced singer“.

Im echten Leben in Stuttgart schwebt Britney Spears in einer silbernen Raumkapsel in die Halle, die von Tänzern mit Samthandschuhen geöffnet wird. Von den Besuchern wird sie so begeistert begrüßt wie die Jahrtausendwende: „Briiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitney!!!!!!“ Vorher hat eine computeranimierte Britney auf der Multimedia-Wand mit verzerrter Kraftwerk-Stimme verkündet: „You have just entered the Britney-Spears-Experience!“

Was dann folgt, ist wirklich eine Erfahrung, ein Erlebnis. Das mit 75 Minuten vielleicht kürzeste, aber in jedem Fall effektvollste Konzert, das die Stadt je erlebt hat. Es geht gleich voll zur Sache: Britney in der Navy mit Admiralsmütze, Britney als Braut mit Schleppe, Britney auf dem Königsthron, Britney als Schulmädchen mit Kniestiefeln und Schottenrock. Das Projekt, an dem ihr Vorbild Madonna gute zehn Jahre hart gearbeitet hat – die Aufsplittung des Künstler-Ichs in multiple Persönlichkeiten –, hier sieht es ganz leicht aus. Bei fast jedem Lied verändert sich das komplette Bühnenbild: Wände rotieren, aus dem Nichts ragt plötzlich eine Showtreppe empor. Zwischendurch tragen die Einsatzkräfte routiniert Kollabierte auf Bahren raus. Ihre vier Hits platziert Britney im Programm an prominenter Stelle. Aber sie singt auch eine tolle Coverversion des Sonny-Bono-Klassikers „The Beat goes on“. Die ersten paar Takte von „I can’t get no satisfaction“ verwandelt sie in sagenhaften weißen Soul, auf den die Rolling Stones bloß neidisch sein können.

Vieles an Britney Spears erinnert tatsächlich an Madonna: die Stimme, das Bühnen-Jogging, die Mischung aus Leidenschaft und Professionalität. Die notorischen Drübersteher unter den Popfreunden haben Madonna anfangs ja auch nicht ernst genommen. Heute gilt als Allgemeingut, dass Madonna ein modernes Feminismus-Modell verkörpert, bei der Herausbildung des Genres namens House nicht ganz unbeteiligt war und mit ihrer brettharten Leistungsethik vielleicht sogar die New Economy visionär vorwegnahm. Viele Britney-Stücke wirken wie ein Update von Liedern aus Madonnas blauer Periode als Turbo-Pop 2000: „La Isla Bonita“ und „Live to Tell“ – von dem 86er Album „True Blue“ – in neuem Sound-Gewand. Musikalisch mag das kein wirklicher Vorstoß in neue Dimensionen sein, und vom handwerklichen Standpunkt ist sicher nicht alles einwandfrei sauber. Aber: Wann hat es im Pop je eine Rolle gespielt, ob einer sein Instrument beherrscht oder über vier Oktaven singen kann?

„I’m a small town girl“, sagt die im ländlichen Louisiana groß gewordene Britney Spears zu ihren Fans, von denen die meisten weiblich und zwischen 10 und 16 Jahren sind. Das soll heißen: Ihr da draußen in Esslingen, Tübingen und Gomaringen, ihr könnt es auch schaffen! If you can dream it you can make it! Was wahrscheinlich so nicht stimmt, aber es ist eine Illusion, die einem doch weiterhilft.

Am Verkaufsstand gibt es den Britney-Bären für 65 Mark und den original rosa Cowboyhut für 115 Mark. Welchen finanziellen Aufwand dieser Abend für eine Familie mit mittlerem Einkommen und zwei halbwüchsigen Töchtern bedeutet, darüber will man lieber nicht nachdenken. Aber wer am Ende in die Gesichter der erlösten Fans blickt, spürt, dass es sich gelohnt hat.

Stuttgart, make some noise!

OLIVER FUCHS

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