Den Sumpf trockenlegen

In der durch Korruption und Misswirtschaft erschütterten Metropole Sao Paulo wird morgen ein neuer Bürgermeister gewählt. Die Kandidatin der Linken, Marta Suplicy, hat gute Chancen zu gewinnen. Ihr Widersacher setzt auf Law-and-Order-Parolen

aus São Paulo GERHARD DILGER

Hupend fahren Dutzende von Autos und Bussen mit roten und weißen Fahnen durch São Paulos nördlichen Bezirk Vila Maria. Vorneweg winken aus einem offenen Jeep Marta Suplicy, die 55-jährige Hoffnungsträgerin der Arbeiterpartei PT, und ihre schwarze Parteifreundin Benedita da Silva, ihres Zeichens Vizegouverneurin von Rio. Aus den Bussen dröhnen rhythmische Parolen und zwischendurch ein Wahlkampfsamba. Die Passanten betrachten die Karawane amüsiert, viele winken zurück, andere schütteln den Kopf.

Bei den Zwischenstopps versammelt sich Lokalprominenz, um die Politikerinnen zu begrüßen. „Marta verkörpert die Transparenz und die Moral,“ schlägt Benedita da Silva das Leitmotiv der Wahlkampagne an. „Keiner hält mehr die Zustände in dieser Stadt aus“, bekräftigt die blonde Kandidatin, „wir werden diesen Sumpf trockenlegen.“

Arbeitslosigkeitauf Rekordniveau

Jeder Zuhörer weiß, was damit gemeint ist: Seit Jahren taumelt die brasilianische Megametropole von einem Korruptionsskandal in den nächsten. Der amtierende Bürgermeister Celso Pitta wurde in diesem Jahr per Gerichtsurteil zwei Mal ab- und anschließend wieder eingesetzt. Die Schuldenlast verzehnfachte sich in acht Jahren auf rund 21 Milliarden Mark, ohne dass sich an der sozialen Schieflage der Stadt etwas geändert hätte. Kriminalität und Arbeitslosigkeit haben Rekordhöhen erreicht.

Die morgige Stichwahl um das Amt des Bürgermeisters möchte die Psychologin Suplicy, die sich in den Achtzigerjahren durch eine beliebte Sexualberatungssendung im Fernsehen einen Namen machte, für sich entscheiden. Ihr Kontrahent ist Pittas Ziehvater und Vorgänger Paulo Maluf, der in der ersten Runde nur um Haaresbreite am Kandidaten der bürgerlichen Mitte vorbeigezogen war. Der 69-jährige Multimillionär Maluf lenkte erstmals zur Hochzeit der Militärdiktatur die Geschicke der Stadt und ist stolz auf die Stadtautobahnen und Tunnels, die er bauen ließ. Sein Image als Macher brachte ihm 1992 den Sieg über die Arbeiterpartei, die ihrer ersten Bürgermeisterin Luiza Erundina nur wenig Rückhalt gegeben hatte.

In den letzten Tagen hat sich das Duell ausschließlich in die Medien verlagert. Dabei kämpfen beide Seiten mit harten Bandagen. In der ersten TV-Debatte vor zehn Tagen gifteten sich die Kontrahenten mit „Halt’s Maul“ an.

Maluf zitierte gebetsmühlenartig liberale Gesetzesprojekte, die Suplicy als Bundesabgeordnete eingebracht hatte, etwa zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder zum Strafnachlass für Häftlinge, die sich im Knast weiterbilden.

Damit ist es „Pitbull“ Paulo Maluf gelungen, die Debatte über Sachfragen der Stadtpolitik in den Hintergrund zu drängen. Seine Vorschläge sind Versprechungen nach dem Gießkannenprinzip und Law-and-Order-Parolen. Zugleich versucht er, Angst vor dem „Chaos“ zu schüren, das die PT anrichten werde.

Im südlichen Bezirk Capão Redondo drängen sich über 200.000 Bewohner auf gut 13 Quadratkilometern zusammen. Aus ehemaligen Elendsvierteln hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine halbwegs funktionierende Infrastruktur entwickelt. Die verwinkelten Straßen sind längst asphaltiert. Viele Menschen haben es zu bescheidenem Wohlstand gebracht und ihre Häuser Stück für Stück ausgebaut. Tagsüber würde man kaum vermuten, dass Capão Redondo wegen Bandenkriegen und Polizeigewalt berüchtigt ist und zusammen mit zwei Nachbarbezirken als „Todesdreieck“ São Paulos gilt.

Jährlich tötet die Polizei über 600 Unschuldige

„Immer, wenn meine Söhne zur Abendschicht in die Schule gehen, habe ich Angst“, gesteht Teresa Santos Gabriel, die wochentags als Hausangestellte in einem eleganten Viertel der Oberschicht arbeitet. Ebenso wie die meisten ihrer Nachbarn ist sie schwarz. „In letzter Zeit gibt es immer mehr Polizisten, aber das macht alles nur noch schlimmer.“ Dunkelhäutige männliche Jugendliche sind besonders gefährdet – die Paulistaner Polizei erschießt Jahr für Jahr über 600 Unschuldige. Spiel- und Sportplätze gibt es im näheren Umkreis keine, die nächste Bibliothek liegt zwei lange Busfahrten entfernt. Mehr schlecht als recht funktionieren Schulen und Gesundheitsposten.

Die letzten Umfragen zeigen, dass Maluf Boden gutgemacht hat. Als „Robin Hood“ wolle er vier Millionen Einwohner von der Grundsteuer befreien und das Geld bei jenen eintreiben, „die es haben“, kündigt er an. Solche Sprüche kommen in den ärmeren Vierteln wie Capão Redondo gut an. Marta Suplicy weihte dort das erste von 20 Computerzentren ein, um das „digitale Analphabetentum zu bekämpfen“. Das Projekt „sampa.org“ wird von Basisorganisationen betrieben und durch Spenden aus der Industrie finanziert, eine Konstellation, die Marta Suplicy auch in anderen Bereichen vorschwebt. Träger ist das Instituto Florestan Fernandes, eine NGO, der die PT-Kandidatin vorsitzt. Die 300 Anwesenden, von denen die meisten nicht einmal einen Hauptschulabschluss haben, lauschen den Ausführungen Suplicys über die „New Economy“ , doch in ihrem Alltag haben sie andere Sorgen.

Wahl paradox: Die Kandidatin der Linken, selbst Tochter aus gutem Hause und mit einem prominenten PT-Senator verheiratet, genießt Sympathien bis weit ins bürgerliche Lager hinein. Selbst die großen Parteien PMDB und PSDB, die in Brasília zur Mitte-Rechts-Regierung gehören, bilden in São Paulo mit der Linkskoalition um die PT eine breite „ethische“ Front. Dagegen kann der Populist Maluf besonders auf die Verlierer der tiefen Krise hoffen, zu der in São Paulo neoliberale Umverteilung von unten nach oben und Vetterwirtschaft beigetragen haben. Favoritin bleibt jedoch die Pragmatikerin Suplicy, die sich auf eine Mitte-Links-Mehrheit im Stadtparlament stützen und bei leeren Kassen zumindest die Stadtverwaltung „säubern“ und dezentralisieren könnte.