ZUM FRAGWÜRDIGEN BEGRIFF DER DEUTSCHEN LEITKULTUR
: Zündelnde Worthülse

Die Diskussion über die Zuwanderungspolitik hat einige sehr lustige Aspekte. Hübsch ist zum Beispiel, dass der neue CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer einen Partei übergreifenden Konsens bei diesem Thema für „eine prima Sache“ hielte, während gleichzeitig Roland Koch seiner Parteifreundin Rita Süssmuth nahe legt, den Vorsitz der entsprechenden Kommission abzugeben. Nett ist auch, dass manchen Unionspolitikern jetzt ausgerechnet die Gleichberechtigung der Frau bei ihren Bemühungen einfällt, den unscharfen Begriff der Leitkultur inhaltlich zu füllen. Werden wir da nicht eher Zeugen eines Kulturbruchs bei den Konservativen? Hilfsweise betonen andere, dass alle Zuwanderer sich an die deutschen Gesetze zu halten und die Verfassung zu respektieren hätten. Das bestreitet zwar ohnehin niemand, aber aus dem Mund von CDU-Vertretern hört es sich derzeit doch gut an. Vor allem der Hinweis auf die gebotene Verfassungstreue berechtigt angesichts einer betrüblichen Vergangenheit zu den schönsten Hoffnungen für die Zukunft.

Von derlei Kuriositäten abgesehen, ist der Umgang mit dem Thema ein Trauerspiel. Dabei hatte alles viel versprechend angefangen. Ungewöhnlich lange – nämlich immerhin ein paar Tage – haben die Regierungsparteien, die meisten Medien, die Kirchen und andere öffentliche Institutionen es alleine der Union überlassen, sich über die Äußerungen ihres Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz zur Zuwanderungspolitik zu streiten. Dessen populistische Provokationen wurden nicht dadurch geadelt, dass irgendjemand so tat, als seien sie inhaltlich von Bedeutung.

Ach, wären doch alle bei dieser Haltung geblieben! Stattdessen verabschieden sich die Grünen jetzt ängstlich vom erklärten Ziel der multikulturellen Gesellschaft, mit dem sich doch beispielsweise die Verhältnisse in den USA recht gut beschreiben lassen. Darüber hinaus sagen und schreiben jetzt vom Bundespräsidenten Johannes Rau über Gregor Gysi bis hin zur evangelischen Bischöfin Maria Jepsen alle möglichen Leute lauter vernünftige, mahnende Sätze über den Begriff der Leitkultur. Dabei müssten sie wissen, dass sie damit genau diejenigen nicht erreichen, die Merz erreichen will – und dass sie diesem keinen größeren Gefallen tun können. Die Taktik des Fraktionsvorsitzenden und seiner Parteigänger ist doch nicht so schwer zu durchschauen. Sie benutzen Worthülsen, die immer erst dann präzisiert werden, wenn die politischen Gegner dafür inhaltliche Vorgaben geliefert haben.

Die Reizwörter bringen einerseits den erhofften Beifall von rechtsaußen ein und kommen andererseits so harmlos daher, dass die Brand stiftenden Biedermänner jederzeit mit treuherzigem Augenaufschlag behaupten können, böswillig missverstanden worden zu sein. Ausgerechnet den Islamforscher Bassam Tibi bezeichnet Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber jetzt als Urheber des – auch von anderen – benutzten Begriffs der Leitkultur. In der Staatskanzlei dürften sie sich grölend auf die Schenkel geschlagen haben, als ihnen dieser Einfall kam. Öffentlich betonen Stoiber, Merz und andere allerdings brav, dass es ihnen doch nur um die ehrliche Diskussion über ein wichtiges Thema gehe. Worum denn sonst? Ein kleiner Schönheitsfehler ist in diesem Zusammenhang lediglich die Tatsache, dass sie ihre Parteifreunde Rita Süssmuth, Volker Rühe und Heiner Geißler niederkartätschen, sobald diese versuchen, sich inhaltlich mit der Zuwanderungspolitik auseinander zu setzen.

Friedrich Merz hat allen Anlass, Kritikern in den eigenen Reihen den Mund verbieten zu wollen. Die Siegeschancen der CDU bei den kommenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg stehen nicht schlecht. Wenn wenigstens ein Teil dieses Erfolges dem intern umstrittenen Fraktionsvorsitzenden zugute geschrieben wird, dann hat er damit seine Position gestärkt. Das gefällt auch Edmund Stoiber. Dem gefällt alles, was die CDU-Vorsitzende Angela Merkel schwächt. Mit Schlagworten zum Thema Zuwanderung ist weder die Mitte der Gesellschaft noch das Wohlwollen der Wirtschaft zurückzugewinnen, die auf ausländische Fachkräfte angewiesen ist. Persönliche Ambitionen lassen sich damit jedoch durchaus befördern. Wen die Frage nach möglichen Folgen derartiger Zündelei nicht quält, der mag im Vorstoß von Friedrich Merz einen geschickten Schachzug sehen. BETTINA GAUS