: Ein Volk in der Datenbank
Die Begehrlichkeiten der Genforscher nehmen zu. Nachdem die Sequenzierung der drei Milliarden Bausteine des menschlichen Genoms fast vollendet ist, ist jetzt eine große Anzahl von Patienten notwendig, um die krankheitsauslösenden Gene zu finden
von WOLFGANG LÖHR
Seit gut drei Jahre wird jetzt schon in Island darum gestritten, ob die Regierung das Recht hat, das Erbgut ihrer Untertanen zu kommerziellen Auswertung an die Pharmaindustrie zu verkaufen. Zwar verabschiedete das isländische Parlament schon 1998 das umstrittene Gesetz für den Aufbau einer Datenbank, in die alle Gesundheits- und Gendaten sowie die Aufzeichnungen über Verwandtschaftsbeziehungen der isländischen Bevölkerung einfließen sollen, doch der Widerstand dagegen hat bisher nicht nachgelassen.
Das exklusive Zugriffsrecht für die Datenbank erhielt die von dem ehemaligen Harvardforscher Kari Stefansson gegründete Gentechfirma deCode, die schon im Vorfeld einen Kooperationsabkommen mit dem Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche abgeschlossen hatte. Vor allem die Isländische Medizinische Gesellschaft (IMA) wehrt sich dagegen, dass die Ärzte zum Datenlieferanten für die Pharmaindustrie degradiert werden sollen. Ein großer Teil der Mediziner verkündete öffentlich, dass sie sich dieser Aufgabe verweigern werden. Sie sehen nicht nur das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt gefährdet. Erzürnt sind sie auch darüber, dass sich die Regierung über internationale Vereinbarungen hinwegsetzt, nach denen die Teilnahme von Patienten an Forschungen nur mit ausdrücklichen Zustimmung und nach umfassender Aufklärung erfolgen darf. Für Blut- und Gewebeproben soll diese „informierte Zustimmung“ plötzlich nicht mehr gelten.
Isländer, die nicht in die Datenbank aufgenommen werden möchten, müssen dies ausdrücklich schriftlich untersagen. Nach Informationen der Datenbank-Kritiker, die sich in der Vereinigung Mannverd zusammengeschlossenen haben, hatten bis Ende Oktober von den rund 270.000 Isländern über 19.000 das entspechende Formblatt bei der Verwaltung der Datenbank eingereicht.
Doch Island ist nicht das einzige Land, in dem die Genforscher ein gesteigertes Interesse an dem Erbgut der Bevölkerung haben. Ein noch weitaus größeres Projekt hat jetzt die Regierung von Estland in Angriff genommen. Die genetischen Daten aller 1,5 Millionen Esten sollen in einer Datenbank gespeichert werden. Man hoffe, so erklärte Andres Metspalu, einer von zwei Leitern des „Nationalen Genzentrums“ in Tallin, auf neue Einsichten in die Zusammenhänge von Genen und Umwelteinflüssen bei der Entstehung von Krankheiten. Anfang nächsten Jahres soll mit der Speicherung der Gendaten begonnen werden. In den nächsten vier bis fünf Jahren sollen zunächst eine Million Datensätze aufgenommen werden. Die Gesamtkosten sind mit rund 400 Millionen Mark veranschlagt worden. Ein Teil davon wird von internationalen Pharmakonzernen getragen. Von den Isländern haben die Esten zumindest eines gelernt. Sie wollen die genetischen Daten nur mit der ausdrücklichen Einwilligung der Betroffenen verarbeiten.
Schon jetzt ist abzusehen, dass die Begehrlichkeiten der Genforscher noch weiter zunehmen werden. Denn nachdem die Sequenzierung der drei Milliarden Bausteine des menschlichen Erbgutes fast vollendet ist, sollen jetzt die Zusammenhänge von Genen und Krankheiten sowie der Stoffwechselfunktionen aufgeklärt werden. Und das ist nur mit einer großen Anzahl von Probanden möglich. Die Konflikte zwischen Forscher und Patienten, die ihr Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch nehmen, werden unweigerlich zunehmen.
So fühlt sich zum Beispiel eine Gruppe der kanadischen Ureinwohner von Humangentikern hintergangen. Mitglieder des in der Provinz West Columbia lebenden Nuu-chah-nulth-Claims fordern jetzt von dem in Großbritannien an der Oxford-Universität tätigen Forscher Ryk Ward ihre Anfang der Achtzigerjahre abgegebenen Blutproben zurück. Ward, damals noch an der University of British Columbia (UBC) tätig, suchte damals nach den genetischen Ursachen für eine ungewöhnliche Form der Arthritis, die besonders gehäuft bei den Nuu-chah-nulth-vorkommt. Blutproben von 883 Claim-Angehörigen sammelte Ward seinerzeit ein. Einen genetischen Marker für die Krankheit konnte er nicht ausfindig machen. Dafür veröffentlichte er Anfang der 90er-Jahre eine wissenschaftliche Arbeit über die genetische Diversität bei den Nuu-chah-nulth. Für diese Forschungsarbeiten hatte Ward jedoch keine Einwilligung von den Nuuh-chah-nulth eingeholt. In den 1983 von den Betroffenen unterzeichneten Einwilligungsformular war lediglich von Forschungsarbeiten über Arthritis und anderen rheumatischen Krankheiten die Rede. Ward hätte ohne Erlaubnis die zweite Studie nicht machen dürfen, sagt Richard Spratley, von der UBC. Als er die Studie durchführte, war er jedoch schon nicht mehr in Kanada. Die Blutproben hatte er einfach mitgenommen.
Andere Forscher und Medizinethiker sehen die Angelegenheit nicht so eng. Der international bekannte Ethiker Arthur Caplan von der University of Pennsylvania, USA, ist der Ansicht, dass die Ausdehnung oder Neuorientierung der Forschungsarbeiten auch ohne zusätzliche Einwilligung legal seien, solange die Betroffenen nicht geschädigt werden. Eine Praxis, die in vielen Ländern mittlerweile etabliert ist. So schreiben in den USA die Richtlinien zwar vor, dass Spender, die ihre DNA für die Wissenschaft zur Verfügung stellen, darüber aufgeklärt werden müssen, für welche Forschungsvorhaben sie benutzt werden sollen. Eine darüber hinausgehende Verwendung ist aber zulässig, wenn die Anonymität gesichert ist. Können die Spender des genetischen Materials nicht mehr identifiziert werden, müssen sie weder um eine Erlaubnis gefragt noch über die weitere Verwendung überhaupt informiert werden.
Nicht bedacht wird dabei jedoch, dass eine Anonymisierung des genetischen Materials so gut wie nicht durchführbar ist. Denn mit Hilfe einer genetischen Analyse oder eines „genetischen Fingerabdrucks“, wie er zum Beispiel bei der Aufklärung von Straftaten eingesetzt wird, ist eine eindeutige Zuordnung des Erbmaterials zu einer Person möglich.
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