: Freundliche Außenseiterin
Majgull Axelssons Roman „Die Aprilhexe“ war voriges Jahr in Schweden ein Erfolg. Ihr Buch ist nun auch auf Deutsch erschienen. Jetzt lud sie zum Gespräch in die schwedische Botschaft in Berlin
von NADINE LANGE
Für einen Moment zögert Majgull Axelsson. Dann beugt sie sich ein wenig vor und sagt ernst: „Nie kann man es ganz richtig machen. Das ist das Schlimmste am Muttersein. Immer wieder gibt es Momente, in denen man diejenigen, die man am meisten liebt, verletzt – ohne es zu wollen.“
Es ist eigentlich unvorstellbar, dass diese freundliche Frau mit dem dichten roten Haar und den gutmütigen grauen Augen einem Kind wehtun könnte. Nicht aus Versehen, nicht mal in der Fantasie. Doch sie nennt ein Beispiel: Die zwölfjährige Christina hatte seit Tagen auf einen Bescheid von der Schulbehörde gewartet. Als er endlich kam, öffnete ihre Mutter Ellen den Brief und sagte: „Leider ... Du kommst nicht rein.“ Fast ohnmächtig sank das Mädchen auf einen Hocker. Doch dann lachte Ellen laut auf. Sie hatte nur Spaß gemacht: In dem Brief stand, dass Christina auf der Oberschule angenommen worden war. Doch die blieb reglos sitzen und konnte sich nicht mehr freuen.
„Für diese Sache habe ich Ellen wirklich gehasst“, sagt Majgull Axelsson, die selbst zwei Söhne hat. Dennoch tat sie nichts, um diese grausame Szene zu verhindern. Im Gegenteil: Sie ist sogar daran schuld, denn sie hat Christina und Ellen erfunden. Es sind Figuren aus ihrem Roman „Die Aprilhexe“, mit dem die 53-jährige Autorin in Schweden schlagartig bekannt wurde.
Monatelang stand das Buch in den Bestsellerlisten, verkaufte sich mehr als zweihunderttausend Mal und gewann schließlich mit dem Augustpriset den wichtigsten schwedischen Literaturpreis. Auch in Deutschland kommt der über fünfhundert Seiten lange Roman an: In den ersten vier Wochen fand er bereits zwanzigtausend KäuferInnen.
Majgull Axelsson erzählt in der „Aprilhexe“ die Geschichte von vier sehr verschiedenen Schwestern, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Schweden aufgewachsen sind. Sie heißen Christina, Magareta, Brigitta und Desirée – wie die Schwestern des schwedischen Königs Carl Gustav. Nur Desirée, die Ersehnte, ist eine leibliche Tochter von Ellen. Doch sie lernte ihre Mutter nie kennen, weil sie als Baby in Pflegeheime abgeschoben wurde – weil körperlich schwer behindert.
Bewegungsunfähig, von Spasmen und epileptischen Anfällen gequält, verbringt sie fast ihr ganzes Leben im Bett. Nur über einen atemgesteuerten Computer kann sie sich verständlich machen. Niemand ahnt, dass in diesem Bündel aus Haut und Knochen eine Aprilhexe wohnt: Desirée kann ihren Körper verlassen und hinter dem Auge eines Vogels davonfliegen oder von einem Menschen Besitz ergreifen. Diese Fähigkeit nutzt sie, um den drei Pflegetöchtern ihrer Mutter nachzustellen. Denn sie will wissen, welche von ihnen „das Leben gestohlen hat, das für mich bestimmt war“.
Die Idee zu dieser ungewöhnlichen Hauptfigur kam Majgull Axelsson bereits in den Siebzigerjahren, als sie eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury mit dem Titel „Aprilhexe“ las. „Seitdem hatte ich die Figur immer in meinem Hinterkopf. Allerdings wurde sie mir nach und nach unheimlich“, erzählt Axelsson. Erst als sie 1995 begann, die imaginierte Hexe in Text zu bannen, wurde ihr Desirée sympathischer.
Von da ab litt und liebte sie zweieinhalb Jahre lang mit ihr, ihren Schwestern und den Müttern. Sie schuf zwischen ihnen ein vertracktes Netz aus Begehrlichkeiten, Enttäuschung und kurzen Glücksmomenten. Der Roman ist so dicht und kunstvoll gewebt, dass dessen Geschichte einen geradezu thrillerhaften Sog entwickelt – vorangetrieben von der Sehnsucht der Töchter nach einer liebenden Mutter. Von ihrer eigenen Mutter lernte Majgull Axelsson die Liebe zu Büchern. Durch sie entdeckte sie, dass es nicht nur Pflichtlektüre für die Schule gab, sondern auch Romane, die begeistern.
So vertiefte Axelsson sich in Astrid Lindgrens Bücher und zitterte mit bei den unglaublichen Abenteuern des kleinen Mumintroll von der Finnin Tove Jansson. Spannende Geschichten erzählte aber auch ihre Mutter, die zuerst Fabrikarbeiterin und später Kellnerin war: Sie bediente jedes Jahr auf der Nobelpreisdinnerparty und berichtete ihrer Familie anschließend vom Verhalten der Prominenz. „Einmal hatte meine Mutter sogar das Feuerzeug von Königin Silvia erspäht. Unglaublich: Es war nur ein billiges blaues Plastikfeuerzeug“, erinnert sich Axelsson lachend.
Aus der Faszination für das Lesen entwickelte sich bei Majgull Axelsson bald der Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Doch lange schien dieses Ziel für sie unerreichbar: Sie ging ohne Abitur vom Gymnasium ab, jobbte erst in einem Hotel in Liverpool und fing dann an für die schwedische Telefongesellschaft zu arbeiten. Abends machte sie sich auf den Weg zu ihrem Traum vom Schreiben – zunächst allerdings nur in der Light-Version: Sie besuchte eine private Journalistenschule und arbeitete danach einige Jahre bei Regionalzeitungen.
Schließlich ging sie als Chefredakteurin einer Gewerkschaftszeitung nach Stockholm. Nebenher veröffentlichte sie Bücher mit Sozialreportagen und begann mit dem Romaneschreiben – ein beeindruckender Aufstieg, ehe überhaupt ihr erster Roman fertig formuliert war. Dennoch sieht sich Axelsson nach wie vor als gesellschaftliche Outsiderin. „Das wird immer so bleiben“, sagt die Tochter eines Heizers und späteren Lokführers.
Sie sagt es ohne Bedauern. Stattdessen nutzt sie dieses Gefühl des Immer-außen-vor-Seins für ihr Schreiben. In der „Aprilhexe“ hat sie es zum Beispiel Magareta mitgegeben, die sich vom armen Pflegekind zur Physikerin entwickelt. Obwohl sie an einem renommierten Institut arbeitet, empfindet sie gegenüber ihren KollegInnnen stets eine gewisse Fremdheit. Wie ihre Schöpferin sieht sie das Außenseitertum aber letztlich positiv: „Wir Aufsteiger sind frei“, sagt Magareta. Und: „Es ist schön, nicht dazugehören zu müssen.“
Offenkundig lebt es sich auch ganz gut in der Zwischenzone. Axelsson wohnt mit ihrem Mann Jan, einem Fernsehjournalisten, und ihrem jüngeren Sohn Patrik in einem Reihenhaus in Väsby nördlich von Stockholm. Außerdem hat die Familie ein Sommerhaus auf dem Land, wohin sich Majgull Axelsson gern zum Schreiben zurückzieht. Dort hat sie auch an der Nachfolgerin der „Aprilhexe“ gefeilt, in dem wieder die Frauen einer Familie im Mittelpunkt stehen werden.
Diesmal sind es nur drei, und sie werden Augusta, Alice und Angelika heißen – mehr will die Autorin jetzt in der schwedischen Botschaft in Berlin noch nicht verraten. Außerdem hat sie noch Probleme mit dem Ende: „Es wird sehr traurig werden, und ich schrecke noch davor zurück, das aufzuschreiben. Denn solange ich es nicht schreibe, ist das Traurige auch noch nicht passiert.“
Majgull Axelsson schaut ein wenig bedrückt, als sie das sagt. Dann muss sie lachen: „Klingt verrückt, nicht?“ Eher nach einem guten Buch – schließlich hat auch „Die Aprilhexe“ ein traurig-schönes Ende.
NADINE LANGE, 27, gebürtige Leverkusenerin, ist freie Journalistin in Berlin und neuerdings Expertin für schwedische Mädchennamen und das schwedische Königshaus
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