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Subsidiarität für Stagnationsinseln

Von Agonie und Arbeitslosigkeit zu Selbsthilfe und Eigeninitiative: Wie durch die Verlagerung von Verfahrensverantwortung die Bewohner von Armenvierteln aktiviert und soziale Brennpunkte stabilisiert werden. Teil 3 der Serie „B. wie Bürgerstadt“

von HANS WOLFGANG HOFFMANN

Ausgerechnet auf dem Terrain, für das der moderne Fürsorgestaat am meisten versprach, erlebte er sein Waterloo: in den Armenvierteln. Während die Wirtschaftsentwicklung der Städte insgesamt unter seinem Regime nur stagnierte, verschärfte sich die Situation in den Kiezen stetig – trotz Transferleistungen, die so titanisch waren, dass sie heute die staatliche Handlungsfähigkeit insgesamt in Frage stellen. Und wohl vor allem weil sie immer nur als Almosenempfänger behandelt wurden, verharren die Bewohner in Agonie.

Vor zwei Jahren fiel Berlin aus allen Wolken: Sozialräumlich war die Stadt nach der Wende nicht etwa zusammengewachsen. Vielmehr hatte sich die Schere zwischen den Stadtteilen weiter geöffnet. Wo sich schon früher Arbeitslosigkeit, Agonie und Kriminalität ballten, stellte der Sozialstrukturatlas fest, konzentrierten sich die Probleme immer mehr. Nicht zuletzt, weil jene Wohlsituierten, die diese Stadtteile einst stabilisierten, ihnen in Scharen den Rücken kehrten. Eine Studie der Stadtentwicklungsverwaltung belegte, dass ihr Exitus gar am größten dort ausfiel, wo Aufwertung am ausgiebigsten betrieben worden war. Bau- wie Sozialpolitik waren gleich doppelt gescheitert: Sie hatten sich nicht nur als erfolglos erwiesen, sondern die Etats auch so weit belastet, dass sie nicht weiter fortgesetzt werden konnten.

Dabei war die Lage landesweit dieselbe, so dass 1999 selbst die Bundesregierung ein Programm auflegte: „die soziale Stadt“, in das sich auch das Berliner Quartiersmanagement einreihte. Die neue Strategie zielt zunächst auf die dreifache Reorganisation der Zuständigkeiten: Statt soziale, bauliche und wirtschaftliche Vorhaben weiter sektoral zu verfolgen, wurde eine konzertierte Aktion angestrebt. Statt zentraler Zielbestimmung sollte die Agenda nunmehr an Ort und Stelle aufgestellt und abgearbeitet werden. Schließlich hatte die Aktivierung von Eigeninitiative und Selbsthilfe die staatliche Problemlösung abzulösen.

Verfahrensvorbild war vor allem Hamburg: Hier wurde Armutsbekämpfung schon länger als Beschäftigungsförderung verstanden, der etwa zwei Drittel der mittlerweile weit über 100 Projekte dienten. Vornehmlich förderte man die Verselbstständigung. Im Ortsteil Dulsberg wurden drei Gewerbetreibende, die früher in Baracken auf getrennten Grundstücken vor sich hin wurschtelten, in die Lage versetzt, ein gemeinsames Gebäude zu errichten. Der kompakte Neubau verschönerte nicht nur die Straße, sondern bietet auch drei zusätzlichen Betrieben Platz. Wohnungsgesellschaften ließen Instandhaltungs- sowie Moderniserungsmaßnahmen von Langzeitarbeitslosen bewerkstelligen, so dass jede bauliche Verbesserung mit berufsbildenden Effekten einherging.

Bewohner wurden nicht nur als Verwalter eingestellt, sondern übernahmen in vielen Fällen Gestaltung und Pflege des öffentlichen Raums. Bei allen Maßnahmen fungierten die Betroffenen als Berater und Auftraggeber. Aktiviert wurden sie durch Verfügungsfonds von jährlich gerade 40.000 Mark, die ihnen die Stadtentwicklungsbehörde überließ. Sie stellte auch den einzigen Ansprechpartner, der senatsseits für jedes der acht Pilotgebiete zuständig war und dem alle anderen Ressorts Rechenschaft schuldeten. Schließlich erfand sie für die einstigen Arbeiterquartiere, die lange zu reinen Schlafstätten degradiert worden waren, die neue Planungskategorie des „besonderen Wohngebiets“, das allen Lebensvorgängen ihr Recht zubilligt.

Ein noch weiter gehendes Verfahren erlebte 1989 seine Premiere im brasilianischen Pôrto Alegre. Nach einer „Orçamento Participativo“ genannten Fiskalreform wurden die kommunalen Investitionen seither plebiszitär bestimmt. Freilich gelangte ihre Gesamthöhe von seither über 800 Millionen Dollar nicht zur Abstimmung. Auch ihre binnenstädtische Verteilung sowie die sozialpolitische Prioritätensetzung auf gleiche Lebensverhältnisse, auf welche die bisher so finanzierten Verbesserungen im Wesentlichen zurückzuführen sind, standen von vornherein fest. Sicher ist aber, dass die Strategie die Betroffenen aktiviert hat. Das heute in Pôrto Alegre Erreichte wird allgemein positiv bewertet, weshalb mittlerweile auch die drittgrößte Stadt des Landes, Belo Horizonte, und der Bundesstaat Amapá die fiskalische Verantwortungsverlagerung übernommen haben.

Auch unter europäischen Verhältnissen hat die Strategie dieselbe Wirkung, so dass sie sich für weit mehr als die sozialen Brennpunkte anbietet. Für eine Einschätzung ihres nachhaltigen Erfolgs ist es in Hamburg, wo sie seit 1994 umgesetzt wird, gleichwohl noch zu früh. Eine bessere Beurteilungsgrundlage bieten die Niederlande, wo sie mit dem „Wijk Overleg Beheer“ in fünf Rotterdamer Erneuerungsgebieten erstmals 1987 zur Anwendung kam. Tatsächlich konnte durch konzertierte Kiezaktion der Wirkungsgrad staatlicher Förderungen so weit erhöht werden, dass in Holland heute schon ganze Städte nach dem Subsidiaritätsprinzip gesteuert werden. Am Beispiel Tilburg lässt sich – dem Delfter Stadtentwicklungsprofessor Jürgen Rosemann zufolge – erfahren, dass die Neuverteilung von Verfahrensverantwortung soziale Brennpunkte stabilisieren kann. Aber auch nicht mehr: Sie bleiben weiterhin Stagnationsinseln und von staatlichen Subventionen abhängig. Der Problempool bekommt lediglich einen Deckel, bleibt indes ein Fass ohne Boden. Dass solche Stadtteile nachhaltige Aufwertung erfahren können, ist nach den Erfahrungen von Hernando de Soto vom „Instituto Liberdad y Democracia“ in Lima gleichwohl möglich – aber nur, wenn Arme in den Besitz wirklicher Werte gelangen.

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