auf der suche nach der deutschen leitkultur
: Eine Recherche der taz und des KulturRadios Lotte in Weimar*

„Gerade die kulturelle Durchmischung gibt Halt“

Michael Schindhelm, Intendant des Theaters Basel, Autor des Romans „Roberts Reise“:

Wir leben heute eher in einer europäischen Kultur, in der es kulturelle Differenzen in vielen Durchmischungen gibt. Und gerade die, die zu den Sitzenbleibern gehören, die nicht wie wir von Ort zu Ort wandern, sondern sich immer fremder in dieser durchmischten Welt fühlen, greifen nach dem Strohhalm der Heimat. Oder andersherum: Gerade diejenigen, die ihr ganzes Leben an ein und derselben Stelle verbracht haben, sind heute die Fremden in einer sich wandelnden europäischen Gesellschaft. Dementsprechend geben sie sich dann vielleicht eine Leitkultur. So wäre Leitkultur gerade ein Begriff für etwas, was sich versucht vom europäischen Prozess der Durchmischung und der neuen Differenzierung zu isolieren.

Als ich noch in Woronesch (damals UdSSR) Chemie studierte, wurde natürlich versucht uns zu indoktrinieren. Ich lebte damals ja in einer nahezu ghettoartigen Situation mit Leuten aus sechzig Nationen zusammen. Doch gerade diese Art kultureller Durchmischung gab uns einen Halt in einer wirklich total fremden, oftmals anonymisierten, rauen, hochproblematischen sozialen Situation. Denn natürlich gab es in der Sowjetunion wie auch bei uns in der DDR eine Leitkultur. Es gab einfach eine offizielle Kultur, ein offizielles Programm.

Etwas anderes kann übrigens auch heute nicht gemeint sein, wenn die Leute beginnen, von Leitkultur zu reden. Gemeint sein kann doch nur die ideologische Suche nach Bildern mit nationalem Charakter. Aber vielleicht ist das ein Zeichen: Es gibt derzeit den großen dänischen Film, es gibt die französischen Autoren, es gibt Schweizer Videokünstlerinnnen, es gibt die britische Kunst – deutsche Künstler aber spielen kaum eine Rolle. Zehn Jahre nach der deutschen Einheit ist es anscheinend noch nicht gelungen, eine kulturelle Physiognomie zu entwickeln. Uns fehlt es an der Nachhaltigkeit von Entwicklungstendenzen. Stattdessen gibt es lautstarke Tonangeber.

* „Zuwanderer müssen sich der deutschen Leitkultur anpassen“ (Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion)