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Streber gegen Streber:

Gore und Bush haben viel gemeinsam. Ihre Regierungsprogramme immerhin unterscheiden sich

206 Millionen Amerikaner könnten heute wählen – wenn sie denn wollten. Rund die Hälfte von ihnen wird voraussichtlich nicht wollen – und das, obwohl sie im längsten und teuersten Wahlkampf der US-Geschichte umworben worden sind. An dessen Ende liegen die Kandidaten laut Umfragen am heutigen Wahltag immer noch gleichauf.

Es geht bei der Wahl des US-Präsidenten um Parteien, Persönlichkeiten und Programme – in dieser Reihenfolge. „Das ist das unanständige kleine Geheimnis amerikanischer Politik“, sagt Jim Kane, Demoskop am Forman Center For Political Studies in Florida, „die meisten Amerikaner wählen nach Parteizugehörigkeit – der eigenen oder der von den Eltern ererbten.“ Von den beiden großen Parteien sind die Demokraten sozialdemokratisch im weitesten Sinne, sie schätzen Gleichheit und Solidarität mindestens so hoch wie Freiheit, setzen auf soziale Gerechtigkeit, auf den Ausgleich krasser Einkommensunterschiede durch Umverteilung sowie auf die Rolle des Staats als Schiedsrichter und Dienstleister. Die Republikaner hingegen setzen individuelle Freiheit über alles, wollen die meisten Angelegenheiten und Probleme der Initiative Einzelner bzw. dem Markt überlassen.

In Al Gore und George W. Bush stehen sich zwei Kandidaten gegenüber, die sich in vieler Beziehung gleichen wie ein Ei dem anderen und zugleich verschiedener kaum sein können. Beide entstammen traditionsreichen und mächtigen Politikerfamilien und sind seit Jahren auf das angestrebte Amt vorbereitet worden. Beide sind „gemäßigt“ und gänzlich unideologisch. Was dem einen der „mitfühlende Konservatismus“ ist dem anderen der „pragmatische Idealismus“. Bei aller Unterschiedlichkeit der Persönlichkeit sind beide „Strebertypen“, die mit eiserner Disziplin und rastlosem Ehrgeiz ihr Ziel verfolgen.

Während Gore dabei der Primus der politischen Klasse und in die Details aller Sachfragen eingearbeitet ist, besticht Bush eher als populärer Klassenclown durch entwaffnenden Charme und mit der Versicherung, dass er die großen Linien vorgeben und die Details seinen Beratern überlassen wird. Während Gore trotz aller Bemühungen kaum persönliche Wärme beim Wahlvolk ankommen lässt, ist Bush ein Kommunikator in der Tradition Ronald Reagans.

Beide haben detaillierte Regierungsprogramme entwickelt, deren Unterschiede herauszuarbeiten sie nicht müde werden. Keines der Programme hat bei den sich abzeichnenden Mehrheitsverhältnissen im Kongress die geringste Chance auf Umsetzung. Kompromisse werden unumgänglich sein. Beide sind im Wahlkampf nach links gerückt – Bush mit seinem Slogan von der Prosperität, die ein Ziel haben müsse, Gore mit seinem populistischen Angriff auf die großen Konzerne, die Washington im Würgegriff halten.

Der Wahlkampf hat zu einer seltsamen Verkehrung traditionell konservativer und progressiver Positionen geführt. In vielen Fragen trat Bush mit innovativen Ideen auf wie Teilprivatisierung der Rente, Marktanreize im Schulwesen und Einschaltung von Kirchen und Bürgerinitiativen in die Armutsbekämpfung, während Gore an bewährten und populären Institutionen und Modellen festhielt.

Für den Historiker David M. Kennedy geht es bei dieser Wahl darum, die Einrichtungen des Sozialstaats für das 21. Jahrhundert flottzumachen, für eine Epoche also, die vom demographischen Wandel und von Globalisierung geprägt sein wird. Wie werden Bildungswesen, Renten- und Krankenversicherungen, Arbeitsschutz und soziale Sicherung in einem Zeitalter aussehen, in dem Grenzen fließend werden, in dem für Jobs, Loyalitäten, Waren und soziale Bindungen Flexibilität das Leitmotiv sein wird? Gore und Bush wollen, jeder auf seine Weise, diesen Wechsel vorbereiten, Gore durch Stärkung bestehender Institutionen, Bush durch Entwicklung neuer Modelle.

Worum es bei dieser Wahl aber eigentlich geht, erklären David Broder von der Washington Post und Ron Brownsteins von der Los Angeles Times mit einem seltsamen Widerspruch. Amerikaner sehnen sich nach einer Änderung der politischen Kultur Washingtons – Clintons Impeachment war der Tiefpunkt der Ränke und Intrigen –, im Lande aber soll möglichst alles beim Alten bleiben – die Wirtschaft boomt und den meisten Leuten geht es gut. Bush verspricht, das parteipolitische Gezänk in Washington zu beenden, zugleich will er die paar Errungenschaften des amerikanischen Sozialstaats umkrempeln. Gore hingegen versprach, an den bewährten Institutionen festzuhalten, seine Angriffe auf die übermächtigen Ölgesellschaften, Pharma- und Versicherungskonzerne scheinen aber eine Fortsetzung des harschen Washingtoner Tons zu versprechen. Kein Wunder, dass sich die Amerikaner nicht entscheiden können.

Angesprochen wurde im Wahlkampf nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, um dessen Besitzsicherung es geht. Die Rentenreform war das wichtigste Thema überhaupt. Die Jugend, deren Wahlbeteiligung auf unter 30 Prozent gesunken ist, kam im Wahlkampf nicht vor. Ganz fehlte eine Vision für Amerika im 21. Jahrhundert. Kein Wunder, wenn sich für diesen Wahlkampf niemand begeistern ließ – das Fieber ums knappe Rennen ersetzte die Begeisterung für Themen.

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