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Krenz ganz forsch

Vor dem Menschenrechtsgerichtshof bestreitet der Ex-DDR-Staatschef eine Mitschuld an den Mauertoten

STRASSBURG taz ■ Bei diesem Prozess ist alles möglich. Gestern verhandelte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg über die Klage von Egon Krenz. Dabei könnte der ehemalige DDR-Staats- und Parteichef der deutschen Nachwendejustiz eine herbe Schlappe zufügen.

Der Gerichtshof ist eine Einrichtung des Europarates und wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in ihrem Artikel 7 auch die Rückwirkung von Strafgesetzen verbietet. Danach ist eine strafrechtliche Verurteilung nur möglich, wenn die Tat schon bei ihrer Ausführung mit Strafe bedroht war. Nach Ansicht von Egon Krenz haben deutsche Gerichte in seinem Fall gegen diese Bestimmung verstoßen.

Die Bundesregierung argumentierte gestern jedoch, es habe bei der Ahndung der Tötungen an der Mauer überhaupt keine Rückwirkung von Strafgesetzen gegeben. In der Begründung waren sich die deutschen Vertreter allerdings nicht ganz einig. „Die deutschen Gerichte haben nach der Wende nur das DDR-Grenzgesetz richtig ausgelegt“, betonte zum einen Klaus Stoltenberg vom Bundesjustizministerium. Rechtsprofessor Christian Tomuschat, der die Bundesregierung als Rechtsbeistand vertrat, ging in seinen Ausführungen allerdings noch weiter. Teilweise sei das DDR-Grenzgesetz überhaupt nicht anwendbar gewesen, weil es internationalem Recht widersprach. Deshalb, so Tomuschat, habe es auch die Schüsse an der Mauer nicht rechtfertigen können. Einig waren sich die deutschen Vertreter vor allem darin, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Problem der Mauerschützen keine Rolle spielen solle. Karlsruhe hatte nämlich 1996 das Rückwirkungsverbot für DDR-Taten ausdrücklich relativiert, soweit es um „schwerstes materielles Unrecht“ ging. Hier hakte nun auch der Londoner Anwalt Piers Gardner ein, der Krenz vertrat. Er legte dar, dass in den 70er- und 80er-Jahren noch niemand mit einer so umstürzenden Änderung der Rechtslage rechnen konnte – weder innenpolitisch noch im internationalen Recht. Zu Tomuschat gewandt sagte er: „Wenn Sie das internationale Recht auslegen, beziehen Sie sich immer auf Entwicklungen, die erst seit 1990 möglich geworden sind. Vor einer solchen nachträglichen Uminterpretation des Rechts will das Rückwirkungsverbot aber gerade schützen.“ Die so genannte „Nürnberg-Klausel“ der Konvention spielte im Straßburger Verfahren keine Rolle. Danach ist die Rückwirkung von Strafgesetzen möglich, wenn die Tat bei anderen „zivilisierten Völkern“ allgemein strafbar ist. Hierauf wollte sich im Fall Krenz nicht einmal die Bundesregierung berufen. Wie die 17 Richter des Straßburger Gerichtshofs den Fall beurteilen, war gestern nicht andeutungsweise zu spüren. Wie am EGMR üblich, wurden keinerlei Fragen gestellt. Neben Krenz waren gestern noch der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Kessler und sein Stellvertreter Fritz Streletz als Kläger persönlich gekommen. Ein Soldat, der 1973 einen Flüchtling erschossen hatte, war durch seinen Anwalt vertreten. Das Urteil wird für das Frühjahr erwartet. CHRISTIAN RATH

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