: Links, zwo, drei, vier
62 Jahre nach der Pogromnacht der Nazis brennen wieder Synagogen in Deutschland. Ist doch egal, wenn da die Regierung zur Demonstration aufruft
aus Berlin HEIKE HAARHOFF
Schröder, oder das, was von ihm übrig geblieben ist, lehnt windzerzaust hinter einer Absperrung an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. „Mensch“, sagt ein Ordner, „ditte jeht doch nicht.“ Bein hoch, hinter die Sperre gewuchtet, „den Schröder ’n bittel herrichten“. Zwar ist der leibhaftige Bundeskanzler noch gar nicht eingetroffen. Aber der Blumenkranz, den er hier niederlegen wird, sieht schon Stunden vor der Demonstration arg mitgenommen aus, umflattert von einem schwarzrotgoldenen Band mit dem Schriftzug: „Der Bundeskanzler Gerhard Schröder“. So als sei das bereits Botschaft, Grußwort, Mahnung, Autorität genug.
9. November 2000: 82 Jahre nach der Geburtsstunde der Weimarer Republik, 77 Jahre nach dem Marsch der Nazis auf die Feldherrnhalle in München, 62 Jahre nach der Reichspogromnacht, und nur wenige Wochen, da in Deutschland Flüchtlinge, Ausländer und Obdachlose zu Tode geprügelt, und Synagogen, Moscheen und Friedhöfe geschändet wurden. 20.000 Menschen drängten sich gestern bereits am Nachmittag in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte, wo bei Einbruch der Dämmerung eine der größten Demonstrationen gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland seit der Wende begann.
Bei der Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor, die bei Redaktionsschluss noch andauerte, schätzte die Polizei die Zahl der Demonstrierenden auf rund 100.000. Im Einsatz waren 1.000 Polizisten. „Wenn man zusammensteht und nicht wegsieht, kann man Geschichte verändern“, forderte Andreas Nachama, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Ihm gegenüber eine friedliche Menschenmenge, die sich an Mäntel, Hüte und Transparente einen Button geheftet hatte: „Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz“, die zentrale Botschaft der Demonstration. Dass diese nun ausgerechnet von der Bundesregierung ausgegeben worden war, dass es einen Kanzler brauchte, das Volk zum „Aufstand der Anständigen“ auf die Straße zu bestellen – was für eine Rolle spielte das schon? „Es geht doch um die braune Gefahr, da ist’s doch egal, wer aufruft“, sagte ein Rentner, der eigens aus dem Ruhrgebiet angereist war. Was machte es da schon, dass für die mitdemonstrierende Politelite – Kanzler, Bundespräsident, Innen-, Außen-, Bauminister und wie sie alle heißen – ein eigener Weg neben der Demo-Strecke fürs Volk gebahnt wurde? In Grüppchen, geordnet nach Parteizugehörigkeit, wurde gen Brandenburger Tor spaziert, eine gute Gelegenheit, den versammelten Deutschen Bundestag endlich mal live zu sehen. Nur Dietmar Bartsch, der PDS-Bundesgeschäftsführer, verlief sich zunächst, kam aber schnell auf den rechten Weg zurück, als ein Betrunkener mit sichtlichem Gesprächsbedarf auf ihn zusteuerte.
Warum Juliane und Christina, 16-jährige Schülerinnen aus Belzig in Brandenburg, demonstrierten? „Da, wo wir wohnen, ist die rechte Meinung mehr gefragt, und da haben wir keinen Bock mehr drauf.“ Für René Roland aus Berlin-Charlottenburg war es „die erste Demonstration meines Lebens“, 56 Jahre musste er alt werden, bevor „ich es so zum Kotzen fand, was in diesem Land passiert“, dass er sich aufmachte, seinen Unmut kundzutun. Auch viele Ausländer liefen mit, „denn was hier bei euch passiert, diese Probleme haben wir bei uns auch“, sagte eine schwedische Sprachschülerin, „und deswegen muss man auf die Straße gehen“. Sie wusste sich einig mit der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), die vor Kameras daran erinnerte, dass „Demokratie ohne Erziehung zur Demokratie“ nicht funktioniere und dass eben diese Erziehung „zu lange vernachlässigt“ worden sei, von Eltern, von Lehrern. Aber auch von der Politik, die ihre CDU als Regierungspartei immerhin 16 Jahre lang maßgeblich prägte. Das war’s dann auch mit der Selbstkritik, und Rita Süssmuth fand zu den Worten zurück, die gestern so viel und gern gesprochen wurden: „Alle Menschen in diesem Land müssen in Sicherheit leben können.“ Was sie dazu als Vorsitzende der Einwanderungskommission der Bundesregierung beitragen will, verriet sie nicht.
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