Marsch, Marsch für mehr Menschlichkeit

Zweihunderttausend Teilnehmer auf der 9.-November-Demo in Berlin. Spiegel greift Union an: „Hören Sie auf zu zündeln!“ Wegen Residenzpflicht können Asylsuchende nicht mitdemonstrieren

BERLIN taz ■ Noch vor Beginn der offiziellen Kundgebung vorm Brandenburger Tor musste der Pariser Platz wegen Überfüllung gesperrt werden: In ganz Berlin-Mitte fand erstmals seit acht Jahren eine Großdemonstration gegen Rechtsextremismus statt.

In ihren Ansprachen setzten Bundespräsident Johannes Rau und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, unterschiedliche Akzente. Während Rau eher unverbindlich davor warnte, „Ängste und Sorgen“ der Bevölkerung zu „schüren“, übte Spiegel deutliche Kritik an den mitdemonstrierenden Unionspolitikern: „Was soll das Gerede um die Leitkultur?“, sagte Spiegel unter großem Beifall, „ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?“ Von den versammelten „Damen und Herren Politikern“ forderte Spiegel: „Überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln!“ Die Nicht-Berufspolitiker rief er auf: „Machen Sie Ihre demokratisch gewählten Politiker mitverantwortlich für das, was hier geschieht.“

Wie viele Teilnehmer es insgesamt waren, die für „Menschlichkeit und Toleranz“ marschierten, konnte keiner genau sagen. Aus Sicht von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), der – wie die gesamte Staatsspitze – in der ersten Reihe mitlief, waren es auf jeden Fall „viel mehr, als wir erwartet haben“. Moderatorin Sabine Christiansen glaubte, „mehr als 200.000 Teilnehmer“ begrüßen zu können. In der Oranienburger Straße, wo die Demonstration vor der Neuen Synagoge begann, war es bald zu eng geworden.

Ebenso wie bei der letzten Großdemo 1992 sahen die meisten Politiker auch in der gestrigen Demo einen „Aufstand der Anständigen“ (SPD-Fraktionschef Struck) und ein „Signal“, das „Mut und Hoffnung“ mache (Finanzminister Eichel). Die grüne Bundestagsabgeordnete Angelika Beer wollte gar eine „Zäsur in der deutschen Geschichte“ erkennen. Weil der Bundestag eigens für die Demo seine Sitzung beendet hatte, sei es sozusagen die „erste Staatsdemonstration“ gegen rechts gewesen.

Damit wollten mehr als tausend Menschen nichts zu tun haben, die gleichzeitig am traditionellen Gedenkmarsch der Antifaschistischen Initiative Moabit zum Jahrestag des antisemitischen Pogroms 1938 teilnahmen. Eine Veranstaltung wie die Großdemo, „mit Leuten, die einer deutschen Leitkultur das Wort reden“, sei „äußerst fragwürdig“, sagte eine Sprecherin der Initiative zur taz.

Nicht alle Menschen, die von rechter Gewalt direkt bedroht werden, konnten gestern an den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in Berlin und anderen Städten teilnehmen. Asylbewerber dürfen ihren Landkreis nur mit teuren Ausnahmegenehmigungen verlassen. Wer sich nicht daran hält, wird bestraft. „Die Residenzpflicht muss abgeschafft werden“, sagte deshalb Osaren Igbinoba von der Jenaer Flüchtlingsinitiative „The Voice“, die diese Forderung bereits im Juni in einem offenen Brief an alle Bundestagsabgeordneten gestellt hatte. Darauf habe man „leider bis heute keine Antwort erhalten“. LUKAS WALLRAFF

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