die usa wählen – die welt wundert sich
: Rotationsverfahren, Nominierung durch den Zentralbankchef oder doch eine UNO-Kontrollkommission?

Wege aus dem Wahldebakel – Vorschläge aus Brasilien

109,8 Millionen Menschen gingen in Amerika zur Wahl. Überall drückten sie zuerst die Nummer ihres Kandidaten, dann – nach dem Erscheinen des betreffenden Konterfeis auf dem Bildschirm – eine grüne Taste. Innerhalb von 29 Stunden waren die Stimmen im ganzen Land ausgezählt. Auch knappe Ergebnisse wurden akzeptiert. Das war Anfang Oktober bei den brasilianischen Kommunalwahlen.

Das Tauziehen um das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen ist Balsam für das arg geplagte Nationalbewusstsein. Die „Disneydemokratie“, lästerte das Wochenmagazin Istoé, halte ähnliche Überraschungen bereit wie das Schneewittchenschloss in Orlando, das sich mit einem Handgriff in einen Saal mit Zerrspiegeln verwandeln lasse. Verblüfft hätten Millionen festgestellt, dass nicht unbedingt der Kandidat mit den meisten Stimmen das Rennen um das Weiße Haus für sich entscheidet. Vielleicht gebe es nun eine Volksbewegung für Direktwahlen nach dem brasilianischen Vorbild der Achtzigerjahre.

Jeden Monat eröffnen in Brasilien sechs neue McDonald’s-Lokale, und selbst der Fußball ächzt unter dem Regiment der Dollars: Über viele Freundschaftsspiele der Nationalelf entscheidet US-Sponsor Nike. Erfreulich also, dass der kollektive Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem übermächtigen Uncle Sam in den vergangenen Tagen ein wenig geschrumpft ist. Auch die traditionell US-kritische Linke hat Oberwasser bekommen.

Gore oder Bush – weder für die Wall Street noch für die brasilianische Landlosenbewegung MST macht das einen Unterschied. MST-Chef João Pedro Stedile verriet der taz dennoch zwei Vorschläge für die „Kolonialherren“: Die UNO solle sofort eine Kontrollkommission nach Florida schicken – mit Mitgliedern aus Libyen, Haiti, dem Irak, Vietnam und, „natürlich“, Jimmy Carter. Alternativ plädiert er für eine Verfassungsänderung, nach der US-Zentralbankpräsident Greenspan den geeigneteren Kandidaten aussuchen darf. Vom Rotationsmodell für Privat-Pkws in São Paulo ließ sich der Satiriker Claudio Parreira inspirieren: Bush solle an den „ungeraden“, Gore an den „geraden“ Tagen regieren.

Jenseits von scherzhafter Polemik warteten die großen Blätter mit scharfsinnigen Analysen auf. So sezierte die Folha de São Paulo das Fiasko der großen TV-Sender in der Wahlnacht. Die hatten ihre verwirrenden Prognosen über das Ergebnis in Florida allesamt aus einer einzigen Quelle bezogen, dem „Voter News Service“ – und auf Berichterstattung vor Ort verzichtet. „Journalismus ohne Reporter – eine Katastrophe“, so das Fazit.

„Das große Geld stimmt ab, es wird gewählt, und es wird regieren“, schreibt die konservative Tageszeitung O Estado de São Paulo. Nicht die Mängel in der Durchführung oder das Bemühen um das korrekte Endergebnis seien gefährlich, sondern der inhaltliche Gleichklang der Kandidaten und der dadurch drohende Stillstand in der Politik.

GERHARD DILGER