: Avantgarde der Leidenschaft
Wahre Lokale (45): Das sandalöse antike Striptease-Restaurant „Pirr“ in Moskau
Jahrzehntelang schilderte die sowjetische Presse detailliert und genüsslich, wie die bourgeoise Kultur drüben im Westen schillernd verfault. Wie die Kapitalisten sich verzweifelt mit immer neuen Portionen Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll kaputtmachen, wie sie vergeblich versuchen, damit ihrem sinnlosen kapitalistischen Leben einen letzten Halt zu geben, bevor sie endgültig vom Sozialismus überrollt werden. Der sowjetische Bürger las darüber in der Zeitung, beneidete die Genossen im Westen und trank seinen aidssicheren Wodka in der Küche weiter. Als der Sozialismus dann plötzlich den Geist aufgab, dachten die Russen: Na also! Jetzt werden wir uns wohl auch so toll amüsieren, genauso wie die Kollegen drüben: wilder Sex, laute Musik und teurer Alkohol an jeder Ecke, mit einem Wort – Unterhaltung pur.
Die russischen Experten fuhren sofort nach Europa und Amerika, um alles genau zu studieren. Und schon 1990 stand im Moskauer Park für Kultur und Erholung der erste gepanzerte Striptease-Container. Für 25 Rubel konnte man dort durch das kugelsichere Glas zwei blonden Frauen zuschauen, wie sie sich langsam auszogen und langsam wieder an. Der Container hatte auch ein kleines Loch, gerade so groß, um einen Zeigefinger durchzustecken. Für einige Rubel extra näherte sich eine Stripperin dem Loch, und der Glückliche durfte mit dem Zeigefinger an ihren Brustwarzen knipsen. Immer wieder versuchten besonders schlaue Kunden, auch andere Körperteile in das Loch reinzukriegen. Für solche Fälle stand in dem Container eine Axt in der Ecke, mit der die Frauen virtuos umgehen konnten.
Wenig später eröffneten Dutzende von Striptease-Bars und -Restaurants in der russischen Hauptstadt: Frauen in Unterwäsche und Männer in Badehosen, die alle wie Tarzan und Jane aussahen, drehten sich um Eisenstangen herum und verlangten dafür vom Publikum, dass es ihnen Dollarscheine in die Höschen stopfte. Die Russen hatten sich die süßen Wonnen des entwickelten Kapitalismus irgendwie anders vorgestellt. „Was soll dieser Scheiß?“, fragten sie ihre Unterhaltungsexperten. „Wir habe es genau wie im Westen gemacht“, argumentierten die. „Es sieht aber pissig aus“, meckerten die Russen. Die Experten wurden entlassen, und das Volk nahm die Unterhaltungsbranche selbst in die Hand.
Seit Mitte der Neunzigerjahre entwickelt sich nun eine eigene kapitalistische Unterhaltungskultur in Russland, und das mit großem Erfolg. In der Hauptstadt wird jeden Monat ein neues Striptease-Restaurant eröffnet, und jedesmal ist es etwas Einzigartiges, wovon der Westen nur träumen kann. Als ich letztens dort war, besuchte ich die Neueröffnung „Antikes Striptease-Restaurant Pirr“ in der Nikitskaja Straße. Zusammen mit den In-Clubs „Imperium der Leidenschaft“ und „Nackter Bär“ gehört diese Einrichtung zur Avantgarde der postsozialistischen Erotik. Die Haupthalle sah aus wie eine Gruft, war großzügig mit antiken Gegenständen vollgestellt und mit vielen Kerzen ausgeleuchtet. Die männliche Bedienung hatte man als Gladiatoren verkleidet, die weiblichen als Hetären. Das Personal darf sich nicht anders als nur in Reimen äußern.
„Für unsere wertvollen Gäste erfüllen wir jede noch so verrückte Geste“, begrüßte uns eine junge Kellnerin, die eine antike Toga und Sandalen trug, als mein Freund Mischa und ich uns setzten. Mischa hatte gerade eine mehrmonatige Trunksucht hinter sich und war wieder auf wilde Abenteuer scharf. Laut Speisekarte wurden in dem antiken Striptease-Restaurant außer teurem Essen mehrere Sorten von Unterhaltung angeboten: Der Gast konnte mit Gladiatoren kämpfen oder sie am Sack kratzen, er durfte sich von den Hetären füttern lassen oder sie an den Busen fassen. „Für 15.000 Rubel extra spielt der Chefkoch für Sie Akkordeon“, stand noch auf der Speisekarte. Der Chefkoch kam auch zu uns an den Tisch. Er sah aus wie ein Doppelgänger von Zeus, trotzdem hatten wir Zweifel an seiner musikalischen Begabung – 15.000 Rubel ist eine Menge Geld: fast 1.500 Mark. Also bestellten wir zuerst einfach ein Fass antiken Rotwein und schauten uns um. Das ganze sah aus wie ein Naturkundemuseum, nur dass die Gäste in ihren Giovanni-Anzügen irgendwie nicht ins Bild passten. Nach zwei Litern wollte Mischa sich unbedingt mit einem der Gladiatoren anlegen. Er verhandelte hart, fand es aber dann doch zu teuer. Die Bedienung redete die ganze Zeit in Reimen auf uns ein, was sich als äußerst ansteckend erwies. Schon nach kurzer Zeit dichteten wir wie blöd zurück. Mit Anstrengung leerten wir derweil das Fass. Danach gingen wir in voll antikem Zustand an die frische Luft.
Mischa behauptete zwar, der Abend fange jetzt erst richtig an und wollte sofort schräg gegenüber in die „Kaserne der Liebe“ – eine Gay-Bar in einer ehemaligen Badeeinrichtung. Dort, so versprach uns der Türsteher, würden in den zahlreichen engen Duschkabinen Stühle und Tische stehen und junge Männer sich einander in die Ärsche kucken. Mischa wollte es nicht glauben und ging rein, ich aber hatte bereits die Nase voll von der neuen russischen Unterhaltungskultur und ging nach Hause schlafen. WLADIMIR KAMINER
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