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Messias ist ein Biedermann

Bertivogts ist so glücklich wie seit seiner Einmann-Ola in Wembley 1996 nicht mehr: Eine Prozession begleitet den nach 799 Tagen reaktivierten Arbeitslosen beim ersten Training unterm Bayer-Kreuz

aus Leverkusen BERND MÜLLENDER

Bertivogts scherzt. Wirklich. Nicht eben sehr originell, aber aus vollem Herzen und richtig frech. Als er sich nach dem ersten Auftritt mit dem sumodicken Manager Reiner Calmund im überfüllten Presseraum um ein Kamerastativ winden muss, sagt er: „Na, Calli, kommst du da durch?“ Und lacht.

Bertivogts hat viel gelacht am Dienstagnachmittag. Oft richtig gestrahlt. Wahrscheinlich ist er jetzt wirklich glücklich. Nach 799 Tagen. 799 Tage und Nächte war Hans-Hubert Vogts (53) ohne Job. 799 Tage Einsamkeit seit jenem 7. September 1998, als seine Demission die erste Meldung der Tagesschau war. Jetzt kam seine Premiere als Vereinstrainer nicht mal mehr als Kurzmeldung vor dem Wetter. Egal.

Schneeweiße T-Shirts hatte der Club-Sponsor verteilt. „Willkommen Berti“ stand darauf. Dann plötzlich Unruhe. Ein Fanquartett kreuzte mit dem torbreiten Transparent auf: „Lieber ne Nase Koks als Berti Vogts.“ Wobei man ergänzen muss, dass der vermeintliche Krummreim exakt rheinischer Aussprache entspricht. Vogts klingt hier wie Foox. Einer der Fans sagt, Bierdose in der Hand, man wolle weniger den Rauschmittel-Konsum propagieren, denn gegen Vogts, „den Gartenzwerg“, protestieren.

Aber egal: Als Bertivogts dann kommt, verdecken mehrere hundert Schaulustige die Provokation. Höflicher Applaus. „Bertiii!“, ruft einer. Dann noch einer. Und alle folgen ihm und dem Team wie in einer langen andächtigen Prozession zum Trainingsplatz. „Die Berti-Show“ (Kölner Express) beginnt; das Blatt glaubte, „der Messias hätte sich persönlich herabgelassen“.

Ist Vogts 1b-Kandidat gewesen oder 2. Wahl? Am Wochenende waren gleich böse Vermutungen durchs Land gewabert. Kam Vogts nur, weil Klaus Toppmöllers Verpflichtung vom Saarbrücker Klimmt-Club klemmte? Vogts kolportierte eilig, er sei von Bayer und Fußball-Bund bereits seit 1. Juli in den Wartestand versetzt worden, falls Daum eher als im Juli 2001 zum DFB gehe. Dann ging er noch früher nach Florida. Vogts, ein Notnagel in Zeitnot? Hauptsache Biedermann statt Brandstifter? Ach, noch egaler.

„Hey, Superberti!“

Die erste Trainingseinheit. 20 Mann. Laufübungen. Dehnen. Sprinten über Minihürden. Vogts, mit viel zu langer roter Bayer-Jacke, steht da, selbstzufriedener, als sein Freund Helmut Kohl es je war, breitbeinig, die Arme mal auf dem Rücken, mal brustverschränkt. Die Sonne scheint milde milchig. Berti grinst. Berti lacht. Berti strahlt auch hier. Und scherzt. Vor dem Trainingsspielchen ein Gesten-Stakkato, minutenlang, das beim Bodenturnen schon erste Wertungen gäbe. Dann klatscht er mehrfach in die Hände: Das ist der Anpfiff. „Position! Position halten!“, ruft er. Als einer eine Chance versiebt, tröstet er laut: „Gut gespielt!“ Und ruft „Komm Zeh!“ zu Zé Roberto.

Die Leute geben Vertrauensvorschuss. Besser als dieser Toppmöller, sagen viele, „wegen der Erfahrung“. Und: Man müsse ihm doch eine Chance geben. Man warnt vor Vorurteilen. „Lasst ihn erst mal machen.“ Als Bertivogts nach 75 Minuten Arbeit den Platz verlässt, singen fünf Teenie-Groupies „Hey, Superberti ...“ Da strahlt er noch mehr. Richtig gerührt.

Auch seine Sprache hat sich gewandelt. Den unbestimmten Artikel benutzt der neue Bertivogts zielsicher nur noch, wenn er von früher spricht, als „ein Rainer Bonhof, ein Erich Rutemöller“ bei ihm waren. Jetzt hat er mit den drei Musketieren aus glorreichen Zeiten – Wolfgang Rolff, dazu ab Januar Pierre Littbarski und Toni Schumacher – und vielen anderen Hilfshelfern das größte Trainergespann neben sich seit Erfindung des Übungsleiterscheins. Und bitte: Bertivogts korrigiert treffend, „das sind nicht meine Co-Trainer, das sind meine Trainer. Ich bin der Cheftrainer. Ich alleine hab das Sagen.“

Vogtssche Begrifflichkeiten wie „optimistich“, „überracht“, „indiwidwell“, „das Grätchen“ und „breit gefäschert“ sind herkunftsgenetisch unveränderbar. Die branchenspezifische Dativproblematik („Ich will junge Spieler eine Chance geben“) tritt nur noch vereinzelt auf. Das nachgestellte „Ja“, dieses einmalige wie legendäre gesprochene Frageausrufungszeichen, hat er sich bis auf ein Versehen („das ist am 2. Januar, ja“) komplett wegtrainiert. Allerdings neigt er nach der linguistischen Not-OP zur Überkompensation bei Satzenden; er spricht jetzt von „Mannschaff“ und „Davon bin ich überzeug“.

Früher kamen sie alle zu ihm. Nationalelf. Jetzt sind sie alle weg. Nationalelf. Zumindest die Wichtigsten: Ballack, Nowotny, Neuville, Ramelow sind in Dänemark. Damals (Lyon, 0:3) endete alle WM-Hoffnung mit Kroatien; höhere Fußballmächte hatte Vogts schuldig sprechen müssen. Jetzt hat Bertivogts eine kroatische Abwehrkette (Vranjes, Zivkovic, Kovac), dazu Babic und Juric im Kader. Aussöhnung mit den Demütigern von 1998. Auch schön.

Arbeit am Future-Team

Dabei war der Start in den neuen Job gleich gründlich danebengegangen. Am Wochenende war Vogts nach Argentinien geflogen („28 Stunden“), um einen Spieler zu beobachten. Das Spiel wurde nach 37 Minuten abgebrochen. Ein anderes gleich ganz abgesagt. Wolkenbrüche. Unwetter. „Es war eine Erlebnisreise“, sagt Bertivogts froh gelaunt.

Das Comeback am Dienstag war Bertis schönster Tag seit der Ola von Wembley 1996. Gestern war das Nachmittagstraining schon Routine. Samstag droht schon der Ernstfall Spiel (beim HSV). Aber „das Material, das wir vorliegen haben“, sei gut, dennoch gelte es, „ein Future-Team zusammenzustellen“.

Bertivogts will jetzt immer, wie in anderen Sportarten üblich und auch im Fußball andernlands längst praktiziert, die ersten 30 Minuten auf der Tribüne sitzen, wegen „des totalen Überblicks“, der Positionierungskontrolle. Bild, die alte Intimfeindin des kleinen Kleinenbroichers, lobte gestern: „Eine revolutionäre Idee.“ Alles wird gut, ja.

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