: Denkende Displays
■ Geschlechter- und prekäre Arbeitsverhältnisse untersucht: Die ersten beiden Folgen der Theatersoap „world wide web-slums“
Wenn ein Kritiker der Süddeutschen die Schauspieler durcheinander bringt, reagiert der Regisseur René Pollesch sofort: Die Haarfarben seiner Akteure werden wie beim Würfelspielen einfach weitergereicht. Flexibel zeigt sich dieses Theater und reaktionsschnell, wie es derzeit der Arbeitsmarkt verlangt.
Zu groß ist die Textmasse, in der sich world wide web-slums bewegt, um es nachzuerzählen. Deutlicher hingegen werden die neuen Arbeitsverhältnisse, in die sich die Theaterserie eingenistet hat: Callcenter-Ghettos. Die Waren der postfordistischen Ökonomie bestehen zu einem immer größeren Anteil aus Information und Wissen, aus Sprache und damit aus Individualität. Arbeit bedeutet in der Gegenwart intellektuelle und emotionale Tätigkeit. Am deutlichsten wird diese Umwandlung in neuen Servicecenter-Branchen wie dem Telemarketing, dem Bereich, in dem www-slums entstehen. Die Fähigkeit soziale Beziehungen zu organisieren, geht in die Ausweitung betrieblicher Kooperation ein. Gäbe es diesen Bereich moderner Dienstleistung nicht, jemand hätte ihn für das Theater erfinden müssen, so ergiebig und traurig sind die Geschichten von Servicementalität und Kommunikationszwang.
Der in www-slums verwendete Sprechstil lässt sich am ehesten mit dem von Simultanübersetzern vergleichen. Emotionslos und schnell rattern die Schauspieler durch ihre Texte, ohne zu wissen, was für Gedankensprünge noch auf sie zukommen werden. Wenn Pollesch diese Techno-Sprache auf einen hysterischen Telefonier-Tonfall treffen lässt, entsteht schlauer Science Fiction. Die Präzision, mit der sich Raumschiffmenschen bewegen, ist ja eigentlich unverständlich. Hochentwickelte Technologie ermöglicht doch gerade eine Nachlässigkeit des Menschen. Wenn alles funktioniert, passt man sich doch nicht an, sondern lässt es laufen.
So werden auch die Display-Denker und Callcenter-Girls im Stück immer lässiger. Während kaum nachzuvollziehende Technologie das Ruder in die Hand nimmt, verwahrlosen die Akteure zunehmend und finden den letzten Halt in der dekorativen Umgebung ihrer Elterngeneration, deren Interieur jedoch zunehmend ausrastet. Inmitten von explodierenden Popkornmaschinen, Autoscootern, Schäferhundtelefonen und reitenden Jukeboxes, bedauern die vier Slumbewohner, dass es von mp3-files keine B-Seiten gibt. Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl von Technologie-Ghetto.
Und nun nochmal an alle älteren Herren da draußen, für die Kleist den Endpunkt der Theaterinnovation darstellt: Hier brodelt eine neue Sprechtheatervariante, die kein Pop sein möchte, sondern dieses Genre als Vehikel benutzt, um Kritik an Geschlechterverhältnissen und Arbeitsbedingungen zu üben. Schnelligkeit und Spaß verdichten dieses Theater zu einer Keule gegen alle gängige Rentnerregie.
Nikola Duric
weitere Vorstellungen 2. Folge: Fr - So, 3. Folge ab Mi, 22.11., jeweils 22.30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen